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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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triumphierende Pöbel unter Trommeln und Beckenschlagen seine Beute – die Professoren – davonschleppte.
    Auf dem Sportplatz der Universität hatten sich inzwischen fast viertausend Studenten versammelt, um Zeugen des Schauspiels zu werden. Die Professoren mussten sich vor dem Basketballfeld in Reih und Glied aufstellen und dann niederknien. Daraufhin wurden sie von ihren Peinigern angespuckt und geschlagen, geprügelt und getreten. Immer wieder unterbrach Chen Congde diese Tortur, um Papa seine Verachtung entgegenzuschleudern, und er beendete jeden seiner gehässigen Ausbrüche mit einem Schlag in Papas Gesicht. Man beschimpfte Papa und seine Kollegen als »Kuh-Dämonen«. Mit schneidender Stimme erklärte Chen Congde, es gebe keinen Zweifel, dass sich die Kuh-Dämonen verschworen hätten, um die sozialistische Revolution zu zerschlagen und die Diktatur des Proletariats zu stürzen. Doch ihre Pläne seien durchkreuzt worden, denn die Studenten hätten sich erhoben, um mit vereinten Kräften die Konterrevolution zu zerschmettern.
    Die Ankläger steigerten sich in immer größere Hysterie hinein. Und dann war das Ganze beinahe ebenso schnell vorbei, wie es begonnen hatte. Unter den Rufen der Studenten – »Lang lebe der große Führer und Vorsitzende Mao! Lang, lang lebe der große Führer und Vorsitzende Mao!« – stieß ihr Anführer Chen Congde rhythmisch die Faust in die Luft, grinste dann auf die knienden Professoren herab und schlenderte davon.
    Die Menge zerstreute sich und ließ die Kuh-Dämonen auf dem Boden kniend zurück. Einer nach dem anderen erhob sich, mancher nur mit Mühe. Ohne ein Wort zu wechseln, trotteten sie durch die Nacht zu ihren Wohnungen zurück.
     
    Ich lag im Bett, starrte in die Dunkelheit und lauschte den Stimmen und Trommeln in der Ferne. Als es dann still wurde, konnte ich mein Herz schlagen hören. Mama kam mit meinem kleinen Bruder auf dem Arm zu mir ans Bett und versicherte uns, dass alles gut werden würde. Kurz darauf hörte ich draußen schlurfende Schritte und sah durch mein Moskitonetz Papas gebeugte Gestalt.
    »Was ist passiert?«, fragte Mama.
    »Nichts«, erwiderte er mit einem müden Lachen. »Morgen früh um acht Uhr muss ich mich einer politischen Belehrung unterziehen. Aber jetzt bin ich nicht mehr allein: Die ganze Fakultät besteht aus Kriminellen und Verdächtigen. Wir sind alle Kuh-Dämonen, ohne Ausnahme.«
    Am nächsten Morgen beobachtete ich, wie Papa sich auf den Weg machte. Seine eine Gesichtshälfte war stark geschwollen und verfärbt, und er hatte Mühe beim Gehen, als hätte man auch ihm als Kind die Füße gebunden.
    Vierzig Fakultätsmitglieder waren in einen Seminarraum gepfercht, wo ihnen ein Parteifunktionär die Schwere ihrer Vergehen vor Augen führte. Mit geballter Faust erklärte er: »Die studentische Aktion gestern Abend war völlig berechtigt. Ihr habt es euch selbst zuzuschreiben. Eure Pläne zur Wiedererrichtung einer bourgeoisen Gesellschaft wurden entlarvt und durchkreuzt.«
    Seine Tirade wurde mit beklommenem Schweigen aufgenommen. Dann forderte man die Angeklagten auf, nach Hause zu gehen und Geständnisse zu verfassen. Darin sollten sie erklären, wie sehr sie sich die Schläge der Studenten zu Herzen genommen hatten und wie verdient diese Schläge gewesen waren. »Die Studenten haben euch davor bewahrt, weitere Verbrechen zu begehen. Sie verdienen euren Dank. Ich erwarte eure Geständnisse morgen früh um acht.«
    Papa ging mit leeren Händen zu dem Termin. Die übrigen Dozenten hatten gehorsam lange Geständnisse verfasst. Allerdings wurden diese gar nicht eingesammelt. Vielmehr verlangte der Parteifunktionär von ihnen, über das Geschehen auf dem Sportplatz zu diskutieren. Einer nach dem anderen erklärte, wie wunderbar es gewesen sei. »Die Studenten haben uns wachgerüttelt und uns bewusst gemacht, wie schändlich unsere Verbrechen sind«, sagte ein älterer Dozent. Dem pflichteten die anderen mit Ausnahme von Papa bei. »Wir sind alle Verbrecher«, bekannte ein anderer bereitwillig. »Die Studenten waren im Recht mit dem, was sie taten. Ja, sie waren sogar weit nachsichtiger, als sie es hätten sein sollen. Dafür bin ich ihnen dankbar.«
    Mit wachsender Verzweiflung hörte Papa ihnen zu.
    »Denn eigentlich«, plapperte der reuige Professor weiter, »verdienen wir es, erschossen zu werden. Jeder Einzelne von uns hätte den Tod verdient!«
    »Ja!«, riefen die anderen.
    Manche waren ganz offensichtlich bestürzt, dass sie

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