Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
etliche Kilometer entfernt in der Innenstadt lag. Da mein Geld nur für eine Busfahrt reichte, entschied ich mich für die Hinfahrt, um möglichst früh dort zu sein, wenn noch nicht so viele Leute warteten. Nach Hause wollte ich dann zu Fuß gehen. Nach einigem Herumfragen fand ich die Klinik. Ich stellte mich in die Warteschlange und zahlte die Gebühr von fünf Fen. Nach einer Stunde wurde ich in einen großen fensterlosen Raum gerufen, in dem viele Behandlungsstühle standen und zahlreiche Schwestern und Ärzte arbeiteten. An diesem Morgen hatte ich mich extra hübsch angezogen: Ich trug meine rot-schwarz karierte Bluse und schwarze Hosen, denn ich wollte wie ein großes Mädchen wirken.
»Warum bist du gekommen?«, fragte mich eine Schwester.
»Ich habe Zahnweh«, antwortete ich. Ein Zahnarzt werde sich um mich kümmern, versprach sie.
Um mich herum saßen lauter Patienten, die von Zahnärzten behandelt wurden. Manche von ihnen stöhnten, und mir wurde bang zumute. Dann kam ein Zahnarzt zu mir und untersuchte den Zahn. »Er ist verfault«, erklärte er. »Ich muss ihn entfernen.«
»Gut«, nickte ich.
»Das wird aber wehtun«, warnte er mich. »Willst du nicht lieber ein andermal mit deiner Mutter wiederkommen?«
»Ich möchte lieber, dass es gleich gemacht wird«, beharrte ich.
Er wirkte überrascht. »Du bist ein tapferes Mädchen«, meinte er. Dann wies er die Schwester an, mir eine Betäubungsspritze zu geben, und wartete, bis sie wirkte. Leider waren weder er noch die Schwester sehr geschickt. Mehrmals scheiterte ihr Versuch, den Zahn zu ziehen. Der Zahnarzt stellte sich einmal auf die eine, dann auf die andere Seite des Behandlungsstuhls und tauschte dann den Platz mit der Schwester. Er versuchte, den Zahn aus einem anderen Winkel zu erwischen, und nach einem weiteren vergeblichen Versuch gelang es ihm schließlich. Ich hatte keinen Laut von mir gegeben. Der Zahnarzt hielt mir den gezogenen Zahn vor die Nase.
»Achte darauf, den Bereich um den Zahn herum sauber zu halten«, wies er mich an. Die Schwester sagte, ich solle meinen Mund über dem Becken ausspülen. Anschließend stopfte sie mir ein Wattebällchen in das Loch, um die Blutung zu stillen. Bevor ich ging, gab sie mir noch einen kleinen Beutel mit sauberen Wattebäuschen für später mit. Mir wurde schwindelig. Vor der Klinik setzte ich mich erst einmal ein paar Minuten hin, bevor ich mich auf den langen Heimweg machte. Immer wieder befühlte ich mein Mundinneres, und wenn ich spürte, dass die Watte vollgesogen war, wechselte ich sie.
Inzwischen war es heiß und schwül geworden, und schwere, dunkle Wolken hingen am Sommerhimmel. Überrascht von unheilvollem Donnergrollen, sah ich auf zum Himmel, den eine ganze Kette von Blitzen silbern färbte. Ich ging schneller. Hoffentlich würde ich zu Hause zu sein, bevor das Unwetter losbrach. Doch dann prasselte ein heftiger Platzregen nieder. Menschen mit Zeitungen über den Köpfen rannten an mir vorbei. Während ich den überfluteten Gehsteig entlanghastete, spritzte und schwappte Wasser aus meinen Sandalen.
Da fiel mir ein, dass es eine Abkürzung durch ein Waldstück gab. Ich bog auf einen der unbefestigten Pfade durch das Wäldchen ein und hielt mich so weit wie möglich am Wegesrand, damit mich die hohen Kiefern vor dem Regen schützten. Dabei trällerte ich ein populäres Lied zum Lobpreis der Volksbefreiungsarmee:
Der Onkel Soldat von der Volksbefreiungsarmee ist gut!
Er trägt ein langes Gewehr,
Schießt mit schweren Geschützen,
Übt das Kämpfen
Tag und Nacht.
Sicher ist
Das Tor der Heimat.
Und während ich so dahineilte und über die Pfützen hüpfte, tauchte wie aus dem Nichts plötzlich ein Mann auf – ein Soldat der Volksbefreiungsarmee. Ich zuckte zusammen. Gerade noch war ich ganz allein gewesen, und jetzt ging ein großer ernster Mann neben mir und hielt seinen Regenschirm über mich. Ich war überrascht, aber nicht erschrocken. Denn er war ein Soldat und diente dem Volk.
»Ich habe dich singen gehört«, sagte er. »Wo hast du das Lied gelernt, meine Kleine?«
»In der Schule«, erwiderte ich, sah zu ihm auf und strich mir das regennasse Haar aus dem Gesicht.
»Das ist gut«, meinte er und tätschelte mir den Kopf. »Wohin gehst du?«
»Ich gehe nach Hause, Onkel Soldat.«
»Und wissen deine Eltern, wo du bist?«
»Nein, Onkel Soldat.«
Er blickte sich um, als hielte er nach jemandem Ausschau.
»Wie alt bist du?«
»Acht.«
Einige Sekunden lang schwieg er.
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