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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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Kälte zogen wir alles an, was wir hatten. Dann kuschelte ich mich auf meiner Matte unter der Decke ganz dicht an Xiaolan. Zitternd lauschten wir, wie Graupelschauer gegen die Fenster peitschten.
    Yicun jammerte, dass er vor Kälte nicht schlafen könne. Ich machte mir große Sorgen um ihn. Von Woche zu Woche wurde er verschlossener. Nachts hatte er Angst, allein durch den dunklen Flur zur Latrine zu gehen. Er fing an, ins Bett zu machen. Darauf zwangen ihn die erbosten Erzieherinnen, in dem nassen Bettzeug zu schlafen. Eines Nachts kotete er sich sogar im Bett ein. Genossin Pan tobte und drohte, ihn aus dem Heim zu werfen. Yicun brach in Tränen aus und rief nach Mama.
    Genossin Pan und die anderen Erzieherinnen kamen zu dem Schluss, dass es nur eine Möglichkeit gab, eine Wiederholung zu vermeiden: Yicun bekam kein Abendessen. Er musste während des Essens auf seiner Matte sitzen bleiben und zusehen, wie die anderen Kinder aßen. Als ich an diesem Abend zu ihm kam, flüsterte er: »Ich will nach Hause, große Schwester. Ich habe Hunger.« Am liebsten hätte ich gesagt: »Ich auch«, aber ich beherrschte mich und ging stattdessen in mein Zimmer, wo ich mir Zahnpasta in die Hand drückte. Damit ging ich zu Yicun und sagte, dass ich etwas Süßes für ihn hätte. »Mach die Augen zu«, sagte ich und strich ihm die Zahnpasta auf die Zunge. Er leckte, kaute und fragte dann: »Bist du sicher, dass das etwas Süßes war?«
    »Ja«, erwiderte ich. »Xiaolan hat es mir geschenkt.«
    Yicun lächelte, leckte sich die Lippen und wollte mehr. Und ich erzählte ihm, dass Papa und Mama bald zurückkommen würden. Dann würden wir wieder alle zu Hause wohnen und essen, was und so viel wir wollten.

Kapitel 27
    Ü berall bereiteten sich die Rotgardisten, Fabrikarbeiter und Soldaten auf ihren einwöchigen Heimaturlaub vor, denn am Montag, den 17 . Februar 1969 , begann das neue Mondjahr – das Jahr des Hahnes. Und da der Hahnenschrei am Ende der dunklen Nacht kurz vor dem ersten Tageslicht ertönt, glaubte man, dieses Jahr würde vielleicht auch das Ende einer finsteren Zeit bedeuten und Licht bringen. So hoffte Mama, dass sie im neuen Jahr ihren Mann und ihre Kinder wiedersehen würde.
    Eine Woche vor den Festtagen machte der Leiter der Propaganda-Gruppe von Liushan eine überraschende Mitteilung: Die Führung der Kommunistischen Partei habe beschlossen, dass es weiblichen Lehrkräften mit kleinen Kindern erlaubt sein solle, nach Hause zu fahren, um den Jahreswechsel gemeinsam zu feiern. Einzelheiten würden noch bekannt gegeben. Mama wurde vor Aufregung ganz schwindelig. Gespannt wartete sie darauf, dass Tag und Stunde ihrer Abreise bekannt gegeben würden. Endlich wurden die Frauen in die Dorfkantine gerufen, und der Propaganda-Gruppenleiter verlas die Namen der Mütter, deren Heimreise genehmigt worden war. Mamas Name fehlte auf seiner Liste. Sie fragte den Mann, warum. »Ich habe drei kleine Kinder in Hefei«, erinnerte sie ihn.
    »Li Yikai, du weißt sehr genau, dass dein Ehemann ein schädliches Element ist. Wir können dir nicht gestatten, nach Hause zu fahren.«
    Um Mitternacht stand Mama allein am Fenster und versuchte, Trost und Stärke aus der Erinnerung an die Neujahrsfeste der vergangenen Jahre zu gewinnen, die wir im Kreis der Familie gefeiert hatten.
     
    Angehörige holten ihre Kinder ab und brachten sie nach Hause, um mit ihnen zusammen das Neujahrsfest zu feiern. Jeden Tag, wenn ich von der Schule ins Kinderbetreuungszentrum zurückkehrte, hoffte ich darauf, dass Mama oder Papa dort auf uns warteten. Irgendwann waren Xiaolan und ich die Einzigen im Mädchenschlafsaal. Eines Nachmittags saßen wir auf unseren Bettmatten und lasen, als plötzlich eine vertraute Stimme rief: »Xiaolan!«
    »Mama!« Xiaolan sprang auf. In der Tür stand Tante Liang, und Xiaolan rannte auf sie zu.
    »Kommen meine Eltern auch nach Hause, Tante Liang?«, fragte ich.
    »Ich glaube nicht, Maomao«, sagte sie. »Es tut mir so leid.«
    Mir wurde das Herz schwer, doch Tante Liang meinte, dass Mama vermutlich in ein paar Wochen nach Hause kommen dürfe. Hoffentlich.
    Später gingen alle Angestellten des Betreuungszentrums nach Hause. Auch Onkel Liu fuhr in sein Dorf zurück, und so gab es kein Abendessen. Yiding kam zu mir, und wir gingen zu Yicun. Außer uns dreien war niemand mehr im Haus. Als es dunkel wurde, hörten wir gedämpftes Gelächter, das immer wieder vom Knallen der Feuerwerkskörper unterbrochen wurde.
    Das neue Jahr brach

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