Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
Stimme: »Wer zum Teufel macht hier mitten in der Nacht solchen Krach?«
»Meine Tochter ist schwer krank«, sagte Mama.
»Was hat sie?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich habe Angst, dass sie stirbt.«
»Woher willst du das denn wissen?«
»Sie hat hohes Fieber und kann sich kaum mehr bewegen.«
»Kann sie die Augen öffnen?«
Als ich das hörte, schlug ich die Augen auf. »Ja«, antwortete Mama. »Gerade hat sie die Augen aufgemacht.«
»Kann sie auch sprechen?«
»Sag was«, flüsterte Mama mir zu.
»Ich bin hier, Mama«, murmelte ich.
Drinnen meinte die Stimme: »So krank scheint sie nicht zu sein. Verschwindet.«
Vergeblich flehte Mama die Ärztin an, mich zu untersuchen. »Wartet bis morgen. Dann sehe ich sie mir an«, beschied sie uns. Das Licht ging aus, und wir waren wieder allein.
Mama kam zu dem Schluss, dass sie die Ärztin besser nicht weiter bedrängen sollte. Sonst würde sie sich womöglich sogar weigern, mich morgen früh zu untersuchen. Vorsichtig trug sie mich die dunklen Treppen hinunter und nach draußen. Dort wartete der Hund auf uns und begann zu bellen und herumzuspringen. Von Ferne stimmte ein heulender Chor weiterer Tiere ein. Und einen Augenblick später preschte eine kläffende Meute mit gefletschten Zähnen auf uns zu. Ängstlich, aber in herausforderndem Ton redete Mama zu den Tieren, während sie sie mit Fußtritten auf Distanz zu halten suchte. »Na los«, rief sie trotzig, »beißt mir doch ein Stück aus der Wade. Seht, wie es schmeckt! Dann kann mich wenigstens niemand mehr aufs Land schicken.«
Das Bellen verstummte, die Tiere beruhigten sich und ließen von ihr ab. Mama verharrte reglos, während die Hunde uns umkreisten und in der Luft schnupperten. Der Größte aus der Meute kam zögernd näher, beschnüffelte Mamas Füße und was sie da in den Armen hielt. Die anderen schauten zu. Dann stellte sich der Rudelführer neben Mama, hob das Hinterbein und pisste auf ihren Fuß. Anschließend trottete er davon, und die anderen kamen näher. Zwei weitere Hunde taten es ihrem Anführer gleich. Und dann, wie auf ein Zeichen hin, verschwanden sie so plötzlich, wie sie gekommen waren. Mama stieß einen erleichterten Seufzer aus und lachte. »Wenigstens ist es warm«, sagte sie, schüttelte ihren Fuß und setzte den Heimweg fort.
Später machte mir Mama kalte Umschläge auf Stirn, Armen und Beinen, um mein Fieber zu senken. Sie wich die ganze Nacht nicht von meiner Seite, strich mir übers Haar und sprach mir Trost zu.
Am Morgen trug sie mich wieder in die Klinik. Dr. Tang nahm uns sofort dran. Über die vorige Nacht verlor sie kein Wort. Sie untersuchte mich, erklärte, mein Zustand sei nicht bedenklich, und verschrieb mir einen Saft. Nachdem ich die Medizin eingenommen hatte, lief Mama zum Büro des Propaganda-Gruppenleiters, um bei ihm einen Aufschub für ihre Abreise zu erwirken. »Meine Tochter ist schwer krank«, sagte sie zu ihm. »Ich war die ganze Nacht wach und konnte nicht fertig packen. Deshalb bitte ich darum, dass ihr meinen Mann heimkommen lasst, damit er mir helfen kann.«
Der Gruppenleiter sah sie erstaunt an und brach dann in Gelächter aus. »Glaubst du wirklich, dass ich das tue?«, fragte er. »Li Yikai, du bist noch dümmer, als ich gedacht habe. Geh nach Hause. Ich schicke jemanden, der dir hilft.«
Am Nachmittag tauchte eine Universitätsdozentin bei uns auf, eine berüchtigte Ultralinke, die uns beim Packen »half«. Die außergewöhnlich kleine Frau, die die Welt durch die dicken Gläser ihrer Nickelbrille nur blinzelnd wahrzunehmen schien, war berühmt für ihr Talent, Volksfeinde auszumerzen. Sie hatte keine Kinder und konnte sie auch nicht ausstehen.
Statt uns behilflich zu sein, packte sie einige der Taschen wieder aus und begutachtete alles, was darin war. Besonders interessierte sie sich für die Bücher. Als sie sie durchzublättern begann, sagte Mama: »Toilettenpapier!«
»Ja«, erwiderte die Frau. »Zu mehr taugt das auch nicht.«
Gegen Mittag brach sie abrupt auf.
»Danke für deine Hilfe«, sagte Mama, als sie ging.
»Diese Wohnung ist ein Saustall«, gab die Frau zurück.
Yiding schuftete den ganzen Tag, rollte Decken zusammen und band sie zu handlichen Bündeln. Lächelnd sah ihm Mama dabei zu und erinnerte sich daran, wie schlecht sie ihr Gepäck für ihren ersten Aufenthalt auf dem Land gepackt hatte. »Damit könnten wir um die ganze Welt reisen, ohne dass etwas aufgehen würde«, meinte sie. »Das hast du prima
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