Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
und zu uns zurückkommen! Singende, tanzende Menschen flankierten die Straßen und schwenkten das Kleine Rote Buch. Es war wie damals, als meine Eltern zum ersten Mal fortgezogen waren. Jetzt ging Mama mit ihrem großen Sohn weg und übergab mir erneut die Verantwortung für meinen kleinen Bruder. Während die Lkws vorbeirumpelten, winkten und riefen Yicun und ich: »Wiedersehen, Mama, wiedersehen, Yiding.«
Gegen vier Uhr nachmittags erreichte Mamas Laster das Dorf Gao. Der Fahrer stieg aus, und Mama beobachtete, wie Leute aus den schäbigen Hütten näher kamen. Ein kleinwüchsiger Mann in schmutziger Kleidung stolzierte barfuß vor den anderen her. In einer Hand hielt er einen Gong von der Größe eines großen Tellers, in der anderen einen Schlegel. Als er sich dem Lastwagen näherte, hob er den Gong hoch und begann mit dem Schlegel daraufzuschlagen. Der Gong hatte ein Loch und klang so jämmerlich wie eine alte Blechdose. Trotzdem schlug der Mann eifrig darauf.
Sein Gesicht war aufgedunsen, das Haar ungekämmt. Die Zähne waren gelblich verfärbt. Eines seiner Augen rollte scheinbar unabhängig vom anderen hin und her. Er roch nach Alkohol und ging mit unsicheren Schritten. In seinem Mundwinkel hing ein Zigarettenstummel.
»Ich heiße Li Tinghai«, lallte er mit einem so starken Akzent, dass meine Mutter ihn nur mit Mühe verstand. »Ich bin der Chef dieses Dorfes.«
»Das ist dein Landsiedler-Kader«, erklärte der Fahrer.
»Ach, Scheiße!«, grummelte Li Tinghai und funkelte meine Mutter grimmig an.
Eine Frau aus der Gruppe rief mit gackerndem Lachen: »Nenn ihn nicht Li Tinghai, sondern einfach Lao Panghai – Alte Krabbe.«
»Halt die Klappe, du dreckige Schlampe!«, fuhr der Mann sie an. Er zog ein zerknülltes Blatt Papier aus der Tasche und fuchtelte damit drohend in ihre Richtung. »Siehst du das? Die ›Sechs Artikel über die öffentliche Sicherheit‹! Jeder von euch« – er machte eine Geste, die alle einschloss – »fällt als Konterrevolutionär unter die Sechs Artikel, wenn ihr mir Scherereien macht. Und dann werdet ihr erschossen.«
»Du altes Arschloch«, sagte ein junger Mann, »du kannst das ja nicht mal lesen.«
Alle brachen in Gelächter aus.
Alte Krabbe wandte sich an meine Mutter. »Wie heißt du?«, bellte er.
»Li Yikai.«
»Und wer ist das?«, fragte er und wies mit dem Kopf auf meinen Bruder.
»Mein Sohn Yiding.«
»Noch zwei Mäuler mehr zu stopfen!« Er spie seinen Zigarettenstummel aus und umrundete den Wagen, um unsere Habseligkeiten zu begutachten. »Ihr habt nicht zufällig Zigaretten mitgebracht, oder?«, fragte er.
»Nein, tut mir leid«, antwortete meine Mutter.
Alte Krabbe schnorrte den Fahrer um eine Zigarette an, die er ihm widerwillig gab. Daraufhin bat er um eine zweite. »Für meinen Bruder«, erklärte er.
Dann befahl der Fahrer meiner Mutter und Yiding, die Sachen abzuladen. »Und beeilt euch«, fügte er hinzu. »Ich muss heute Abend noch nach Hefei zurück.«
»Legt das Zeug auf den Boden, ich entscheide später, was damit zu tun ist«, rief Alte Krabbe. Während die anderen zuschauten, begannen Mama und Yiding abzuladen.
Kapitel 30
I ch kehrte mit Yicun ins Kinderzentrum zurück. Obwohl wir uns mitten im Schuljahr befanden, wurde kaum unterrichtet. Die Schüler verbrachten fast die ganze Zeit damit, revolutionäre Lieder zu singen und den Vorsitzenden Mao zu zitieren. Wir verneigten uns vor der Büste Maos und lasen das Kleine Rote Buch und die Drei Alten Schriften, nämlich »Dem Volk dienen«, »Zum Gedenken an Dr. Norman Bethune« und »Yü Gung versetzt Berge«. Letztere lasen wir jeden Tag, bis wir sie Zeile für Zeile fehlerlos aufsagen konnten. Darin bestand unsere Bildung.
Eines Vormittags ging ich mit meinen Lebensmittelmarken einkaufen und versuchte, Süßigkeiten für Yicun zu erstehen. Ich suchte fast eine Stunde lang, fand aber nichts. Also beschloss ich, ihm stattdessen ein Spielzeug zu besorgen. Sämtliche erhältlichen Spielzeuge waren politisch ausgerichtet. Am Ende kaufte ich ihm für vier Fen ein kleines Papierbild des Vorsitzenden Mao, wie er auf dem Tiananmen-Platz stand und den Roten Garden zuwinkte. Ich hatte in der Schule gehört, dass man einen Energieschub bekam, wenn man ein Porträt oder ein Abbild des Vorsitzenden Mao in Händen hielt. »Das macht euch zu wahren Energiebündeln«, war einer der Sprüche, die wir von unseren Lehrern hörten. Dafür musste man diese Dinge aber auch sehr respektvoll
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