Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
gemacht.«
Ihr Abreisetag war der 16 . Mai. Anlässlich des Auszuges war eine große Feier geplant. Immerhin sollten an diesem Morgen zweihundert Familien den Campus verlassen. Um sie zu transportieren, hatte man am Vorabend zweihundert Lastwagen hergebracht, die Stoßstange an Stoßstange auf dem Universitätsgelände parkten. Der für uns bestimmte Wagen stand nicht weit vom Eingang unseres Wohnhauses entfernt. Wir stapelten unsere Habseligkeiten auf der Ladefläche, und Yiding band sie fest.
Kurz vor Mitternacht waren wir damit fertig und kehrten in unsere Wohnung zurück. Gerade als wir uns auf dem nackten Boden zum Schlafen ausstrecken wollten, sahen wir draußen einen Blitz, dem Donnergrollen folgte. Wenige Minuten später setzte ein heftiger Platzregen ein. Und unser gesamtes Hab und Gut war auf dem Laster ungeschützt dem Regen ausgesetzt! Mama stellte fest, dass die Betten auf den anderen Lastern mit schweren Planen abgedeckt und gesichert waren. Nur bei unserem Wagen gab es nichts dergleichen.
Sie rannte zur Wohnung des Lkw-Fahrers. Verschlafen öffnete er die Tür.
»Was willst du von mir?«, brummte er. »Ich muss morgen den ganzen Tag fahren und brauche meinen Schlaf.«
»Alle haben Abdeckungen für ihre Sachen, nur wir nicht. Ich will auch welche«, verlangte sie.
»Ich bin bloß der Fahrer«, gab er zurück. »Was zum Teufel geht mich das an?«
Mama lief nach Hause, und sogleich begannen sie und Yiding, den Laster zu entladen und alles hineinzutragen und im Flur zu stapeln. Kein Wort der Klage kam über Yidings Lippen. Er tat mir so leid. Da stand er schon wieder auf dem Wagen, löste die Stricke, mit denen er unsere Sachen eben erst festgezurrt hatte, warf sie zur Seite und reichte Mama die Taschen und Kartons herunter.
Mama wrang die Decken aus und legte sie ausgebreitet auf den Boden. Erst als es schon dämmerte, waren wir mit dem Auspacken, Sortieren und Trocknen fertig. Eine Stunde später hörte es auf zu regnen. Also luden Mama und Yiding unseren Hausrat wieder auf den Laster. Wenige Minuten, nachdem alles wieder festgezurrt war, kam über Lautsprecher die Durchsage, dass wir uns alle auf dem Sportplatz einzufinden hätten. Die Fahrer stiegen in die Führerhäuser ihrer Laster und fuhren dorthin. Wir gingen mit Scharen anderer Leute zu Fuß. Als wir ankamen, wimmelte es bereits von Tausenden von Menschen. Jeder der Abreisenden erhielt eine rote Papierblume, die er sich an die Brust heften sollte. Daran war ein Bändchen befestigt mit der Aufschrift »Ruhmreich ist es, auf dem Land zu siedeln«.
Der Gouverneur der Provinz, ein Kommandant der Volksbefreiungsarmee, stieg auf die Bühne. »Unsere Glückwünsche!«, rief er. »Ihr alle folgt dem Ruf des Vorsitzenden Mao. Ihr siedelt in die Dörfer um, um von den Bauern zu lernen. Werdet so wie sie. Harte körperliche Arbeit wird euch von euren bourgeoisen Ansichten befreien. Wir entbieten euch unseren feierlichen Gruß und beglückwünschen euch.«
Der Kommandant blieb in Hefei wohnen, feierte aber die Heldenhaftigkeit derer, die fortzogen. Zum Schluss schwenkte er das Kleine Rote Buch über dem Kopf und rief: »Sieg dem revolutionären Weg des Vorsitzenden Mao!« Die Menge wiederholte die Parole. Nach dem Kommandanten betraten weitere hohe Parteifunktionäre die Bühne und wiederholten Wort für Wort, was dieser bereits gesagt hatte. Und alle jubelten.
Yicun schlief in Mamas Armen ein. Ich sah, dass auch Yiding beinahe die Augen zufielen. Über die Lautsprecher brüllte jemand, dass die Abreisenden in ihre Lastwagen steigen sollten. Der Augenblick der Trennung war gekommen. Mama wandte sich zu mir und sagte: »Yimao, ich übergebe deinen kleinen Bruder in deine Obhut. Wenn ich mich eingelebt habe, hole ich euch beide nach. Geht zur Schule und lernt fleißig!« Sie bedachte mich mit einem bedrückten Blick. Dann umarmte sie Yicun und setzte ihn ab, worauf er nach meiner Hand fasste. Mama und Yiding stiegen zu dem Fahrer, der rauchend ins Leere starrte, in den Wagen. Mir fiel auf, dass seitlich auf der Motorhaube des Lkws in metallisch glänzenden Schriftzeichen »Modell Befreiung« stand. Auf ein Zeichen hin ließen die Fahrer ihre Motoren an und drückten auf die Hupen. Es war ein markerschütternder Lärm, und blaue Abgase stiegen auf.
Ich fächelte mir mit der Hand frische Luft zu, während Yicun das Gesicht in meiner Bluse vergrub. Mama lehnte sich aus dem Fenster und winkte. Wie sehr wünschte ich mir, sie würde die Tür aufreißen
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