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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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behandeln.
    Auf dem Weg zurück zum Zentrum wurde ich müde und setzte mich auf die Treppe eines Hauses. Ich fühlte mich nicht wohl. Also nahm ich das Bild von Mao heraus und betete, er möge mir Kraft geben und mich stark und gesund machen.
    Nichts geschah.
    Da begann ich nachzudenken über all das, was man mir über den Vorsitzenden Mao und die Partei eingetrichtert hatte. Mir schwante, dass alles nur Lügen waren. Und es kam mir plötzlich albern vor, dass ich ein Stück Papier in der Hand hielt und zu ihm betete.
    Ringsum sah ich Kinder mit dem Kleinen Roten Buch, Rotgardisten, die Sprechchöre riefen, Soldaten, die angeblich dem Volk dienten. Ich sah all die unansehnlichen Kleider, die leeren Blicke, die Kurzhaarschnitte der jungen Frauen in sackartigen Hosen und schmutzigen Blusen, die Wandzeitungen, die diesen oder jenen lobten oder anprangerten. Ich erkannte die tiefe Trauer der Menschen, die sich hinter all den Sprechchören und Losungen verbarg. Und ich dachte an die Niedergeschlagenheit von Großmutter, Tante Liang, Xiaolan, Mama und Papa. Mit einem Mal wurde mir das ganze Elend bewusst. In meinen Ohren dröhnten die begeisterten Parolen der Lehrer und der Menschenmassen bei den Paraden, als unsere Eltern uns verließen, das Weinen der Familien, die auseinandergerissen wurden, die flehentlichen Bitten der Unschuldigen, die dafür bestraft wurden, dass sie in die falsche Familie hineingeboren worden waren, die Schreie der Menschen, die man schlug und verschleppte. Konnte es sein, dass ich als Einzige erkannte, wie die Dinge wirklich waren? Alle verstellten sich, verbargen ihr wahres Gesicht, fürchteten sich.
    Ich fühlte mich einsamer denn je.
    Ob Tante Liang in jener Nacht, als sie von Xiaolan Abschied nahm, dasselbe gedacht hatte? Ich fragte mich, was mit mir geschehen würde, allein in diesem weiten Meer der Lügen.
     
    Mama schrieb mir, dass sie die nötigen Vorkehrungen getroffen habe, um meinen kleinen Bruder zu sich ins Dorf zu holen. Ich solle noch in Hefei bleiben. Da die Universität immer noch unter der Aufsicht der Volksbefreiungsarmee stand, würde einer der Soldaten Yicun zu ihr bringen. Ihrem Brief legte sie Geld und Lebensmittelmarken bei. Damit ging ich einkaufen und besorgte Yicun ein neues Paar Schuhe sowie Süßigkeiten und Kekse.
    Ein paar Tage darauf tauchte der angekündigte Soldat auf. Ich hatte ein ungutes Gefühl, als ich den jungen Mann sah, denn ich traute keinem Soldaten mehr. Diesen musterte ich ganz besonders gründlich und sah ihm in die Augen, um festzustellen, ob er etwas Angsteinflößendes hatte. Ich verglich sogar seine Stimme mit der des Soldaten, der mir damals wehgetan hatte. Aber dieser Mann war jung und wirkte ehrlich und vertrauenswürdig. So gab ich ihm 50  Fen und Lebensmittelmarken für etwa hundert Gramm Reis, damit er Yicun unterwegs eine Schale Reis kaufen konnte. Nachdem ich meinem Bruder erklärt hatte, dass er zu Mama und Yiding fahren würde, ging er ohne ein Wort. Ich sah ihm nach, wie er mit dem Soldaten, der eine Schachtel Kekse trug, das Kinderzentrum verließ.
    Nun gab es niemanden mehr, um den ich mich kümmern musste. Und wenn die Schule aus war, hatte ich auch niemanden mehr zum Reden. Ich saß auf dem Boden, las oder schaute aus dem Fenster. Die Tage vergingen, einer wie der andere.
    Irgendwann bekam ich Fieber. Wenn ich versuchte, etwas zu essen, musste ich mich übergeben. Also trank ich nur warmes Wasser und aß nichts. Bald quälten mich pochende Kopfschmerzen, es war, als rollte ein Stein in meinem Schädel herum. Ich blieb dem Unterricht fern und hielt mich nur noch in meinem Zimmer auf. Die Erzieherinnen vergaßen mich. Eines Nachts schmerzte mein Kopf so sehr, dass ich um Hilfe schrie, aber niemand kam. Ich rief nach Mama. Schließlich fiel ich in ein Delirium.
    Nach einer schlaflosen Nacht beschloss ich, dass es Zeit zum Sterben war. Ich wusste, dass ich dem Tod nahe war, hatte aber keine Angst. Großmama und Tante Liang würden sich um mich kümmern. Während ich auf den Tod wartete, sah ich meine Brüder und meine Eltern, die zusammen am Tisch saßen und aßen. Sie vermissten mich nicht.
    Ich hauchte einen freudlosen, einsamen Monolog an die kahlen Wände und auf den kalten Boden. Ich rief nach Tante Liang. Schließlich hörte sie mich und antwortete. Ich sah ihr Gesicht im Fenster. Da riss ich die Augen weit auf und lächelte. Ich flüsterte ihren Namen, und sie nickte. Ich sagte ihr, ich wolle nach draußen gehen und

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