Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
Ziel schon fast erreicht hatten, rief ihnen ein Fremder nach: »Li Yikai! Warte!«
»Was ist?«, fragte Mama.
»Die Leitung der Anhui-Universität hat mich hergeschickt, um dich zu suchen«, sagte er. »Doch wegen der Überschwemmung konnte ich nicht eher kommen. Deine Tochter ist sehr krank. Du musst sofort nach Hefei zurück.«
An diesem Sommertag betrug die Temperatur 38 Grad Celsius, und Mama und mein Bruder waren von der schwülen Hitze erschöpft. Mama lehnte sich an ihr Fahrrad. »Was fehlt ihr?«
»Keine Ahnung, ich habe sie nicht gesehen«, erwiderte der Bote, stieg auf sein Rad und fuhr wieder davon.
Mama beschloss, Yiding wie geplant zur Schule zu bringen. Als sie sah, dass er dort gut untergebracht war, verabschiedete sie sich von ihm.
Auf dem Rückweg nach Gao und zu Yicun überlegte sie, wie sie möglichst schnell nach Hefei gelangen könnte. In der vergangenen Woche hatte eine große Überschwemmung weite Teile der Region unter Wasser gesetzt. Die meisten Straßen waren gesperrt, und weder Züge noch Busse verkehrten.
Da sie sich nicht wohlfühlte, ging sie als Erstes zum kommunalen Krankenhaus. Kaum hatte sie das Gebäude betreten, hörte sie jemanden wehklagen. Es war ein Schluchzen, das aus tiefstem Herzen kam. Der diensthabende Arzt erklärte Mama, dass gerade ein elfjähriges Mädchen an einer Lungenentzündung gestorben sei. »Sie wurde zu spät eingeliefert. Wir konnten ihr nicht mehr helfen.«
Durch die offene Tür sah Mama drei unglückliche Gestalten um einen Tisch stehen, auf dem ein kleines Mädchen lag. Das tote Kind trug Lumpen. Vater und Mutter hielten ihre Hände, und ein Bruder, etwa so alt wie Yicun, klammerte sich schluchzend an seine Mutter. Unwillkürlich dachte Mama an mich in Hefei. Vor ihren inneren Augen sah sie mich tot auf einem Krankenhaustisch liegen – so wie dieses Mädchen, aber ohne Angehörige. In ihrer Verzweiflung begann sie leise zu beten. Sie flehte zu Gott, er möge sie erhören und mich retten, damit ich nicht dasselbe Schicksal wie dieses arme kleine Mädchen erleiden müsste.
Nach Gao zurückgekehrt, erhielt sie die Erlaubnis zu fahren, nachdem sie Alter Krabbe ein Päckchen Zigaretten zugesteckt hatte. Mit Yicun auf dem Rücken brach sie am nächsten Morgen nach Hefei auf. Da die Flut die Brücke unterspült hatte, watete sie durch eine seichte Furt und erreichte dann eine Bushaltestelle, die jedoch nicht mehr angefahren wurde. Also ging sie fast zwanzig Kilometer weiter zu einer anderen Haltestelle und stieg dort in einen Bus. Im Nachbarbezirk erwischte sie einen Zug nach Hefei und kam nach Mitternacht im Kinderbetreuungszentrum an.
Mama klopfte so lange an die Tür, bis Genossin Pan öffnete.
»Wo ist meine Tochter?«, fragte sie. »Und was fehlt ihr?«
»Sie ist nicht hier«, antwortete Genossin Pan. »Ich habe sie vor einer Woche ins Militärkrankenhaus 105 gebracht. Aber die Ärzte wissen nicht, was sie hat.«
»Warum ist sie im Militärkrankenhaus?«, fragte Mama verdutzt.
»Das städtische Krankenhaus hat sie nicht aufgenommen. Der Militärbevollmächtigte der Universität hat sie dann dorthin gebracht. Er hat sich als ihr Vater ausgegeben. Und ich habe gesagt, ich wäre ihre Mutter. So hat sie dort ein Bett bekommen«, erklärte Genossin Pan.
Angesichts dieses Mitgefühls fehlten Mama die Worte. Der Militärbevollmächtigte der Universität hatte gelogen, um mich im besten Krankenhaus der Stadt unterzubringen! Und Genossin Pan hatte ihn dabei unterstützt.
Als Genossin Pan Mama in mein Zimmer brachte, sah sie meine Matte ausgerollt auf dem Boden liegen, daneben Schulbücher und Hefte und meine Schuhe. Daraus schloss sie, dass man mich aus dem Zimmer hatte tragen müssen, weil ich zu schwach zum Gehen gewesen war. »Ich muss sofort zu ihr«, schluchzte sie.
»Das geht nicht«, sagte Genossin Pan. »Du musst bis zum Morgen warten. Aber du kannst hier übernachten.«
Früh am nächsten Morgen ließ Mama Yicun bei Genossin Pan zurück und eilte ins Krankenhaus. Am Westtor des Universitätsgeländes stieß sie fast mit einer Kollegin zusammen, die höchst überrascht war, sie zu sehen. »Deine Tochter ist sehr krank«, sagte die Kollegin, »aber wir dachten, dass du es wegen der Überschwemmung nicht hierher schaffst.«
»Was fehlt ihr?«
»Das weißt du nicht?« Die Kollegin war erstaunt. »Nun …« Doch dann verstummte sie. Ohne Mama anzublicken, eilte sie davon. Offenbar weiß sie Bescheid, will es mir aber nicht sagen, weil es
Weitere Kostenlose Bücher