Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
und befahl den Dorfbewohnern, eine Hütte für uns zu errichten. Sie hatte Wände aus Lehm, der Boden bestand aus nackter Erde, und sie war in drei Räume unterteilt. Alte Krabbe wollte wegen unserer Hütte nicht gutes Reisanbauland opfern. Deshalb wurde sie auf dem ehemaligen Friedhof der Familie Gao errichtet. Weil die Dorfbewohner abergläubische Vorstellungen mit diesem Grundstück verbanden, hatte ihnen Alte Krabbe verboten, uns jemals zu erzählen, dass wir auf den Leichen der Gaos hausten.
Gao hieß die Familie, die vor mehreren hundert Jahren das gleichnamige Dorf gegründet hatte. Viele Gaos waren während des Taiping-Aufstands hundert Jahre zuvor geflohen, und noch mehr während des Krieges gegen die Japaner, in dem so mancher der Zurückgebliebenen ermordet wurde. Einige suchten auch während des Bürgerkriegs das Weite. Nach dem Sieg der Kommunisten wurden die Verbliebenen verhaftet, als Ausbeuter der Bauern verurteilt und hingerichtet. Andere schickte man in Gefangenenlager. Wie man uns erzählte, waren die letzten Gaos während der großen Hungersnot gestorben, weil ihnen Alte Krabbe keine Nahrung zugeteilt hatte. Als wir ankamen, lebten keine Gaos mehr in dem Dorf, das ihren Namen trug. Die vorherrschenden Familiennamen lauteten nun Li, Sun, Zhang und Chen.
Unweit unserer neuen Behausung verlief ein schmaler Kanal, durch den Wasser vom Teich zu den Reisfeldern gelangte. Als Brücke diente ein großer umgestürzter Grabstein, in den die Namen der Mitglieder der Familie Gao eingemeißelt waren.
Viele Hütten im Dorf waren stabiler gebaut als unsere. Für ihre eigenen Gebäude hatten die Dorfbewohner richtige gebrannte Ziegel verwendet, nicht nur Lehm. Sie machten sich bei uns auch nicht die Mühe, ein Fenster einzubauen, sodass lediglich durch die offene Eingangstür Tageslicht hereinfiel. Denn Alte Krabbe wollte Zeit und Geld sparen, und wir konnten uns nicht dagegen wehren. Nachdem die Bauarbeiten beendet waren, schlug Papa mithilfe eines Nachbarn an jedem Ende der Hütte ein kleines Loch in die Wände, um mit diesen behelfsmäßigen Fenstern für mehr Licht und Belüftung zu sorgen. Mama hängte Stoff vor die Löcher, damit wir ein wenig Privatsphäre hatten und vor den Naturgewalten geschützt waren.
Die Tür blieb den ganzen Tag offen. Denn wenn wir sie schlossen, tuschelten die Dorfbewohner gleich, wir würden heimliche, verdächtige Dinge tun. Und bald darauf kam Alte Krabbe vorbei und stieß die Tür auf, um sicherzugehen, dass hier nichts ohne sein Wissen geschah. Meine Eltern beschwerten sich nie offen über diese Behandlung. Wir versuchten zu leben wie die Bauern: Wir arbeiteten auf den Feldern, erschienen bei jeder Dorfversammlung und taten, was Alte Krabbe uns befahl.
Die Lebensmittelzuteilungen, die wir für unsere Arbeit bekamen, reichten nie aus. Also besserten wir unseren Speiseplan auf, indem wir wie viele andere Dorfbewohner Hühner hielten. Wir begannen mit zehn Küken, die Mama im Kommunenhauptquartier kaufte. Mit der Zeit wuchsen sie heran, legten Eier und brüteten ihrerseits Küken aus. Mein älterer Bruder und ich teilten uns die Verantwortung für die Hühnerzucht. Sie wohnten bei uns in der Hütte, in einem Hühnerstall, den Yiding für sie baute. Wenn ich sie vor Einbruch der Dunkelheit mit einem »Ku ku ku« rief, kamen sie ins Haus gerannt, wo sie gefüttert wurden und neben Yidings Bett schliefen. Sie waren gesund und so zahlreich und stattlich, dass es sich im ganzen Dorf herumsprach.
Innerhalb eines Jahres wuchs unsere Hühnerschar auf über einhundert Tiere an. Das Geheimnis unseres Erfolgs bestand darin, dass wir ihre Aufzucht wissenschaftlich betrieben. Während eines meiner Klinikaufenthalte hatte Papa einen Arzt kennengelernt und sich mit ihm über Hühnerzucht unterhalten. Der Arzt sagte, man solle den Tieren Antibiotika geben. Er stellte sie meinem Vater zur Verfügung, und ich impfte die Hühner damit. Doch unser Erfolg weckte den Neid einiger Dorfbewohner. Sie wollten ebenfalls so viele Hühner züchten, schafften es aber nicht. Also gingen sie dazu über, sie uns zu stehlen. Alte Krabbe hatte das natürlich nicht nötig. Wenn er ein fettes Huhn im Kochtopf haben wollte, kam er einfach vorbei und nahm sich eines.
Das Dorf besaß vier Wasserbüffel als Kollektiveigentum. Die Tiere waren hoch geschätzt, denn sie waren das Einzige, was den Bauern die Arbeit erleichterte. Während der Hungersnot hatten die Dorfbewohner die Wasserbüffel geschlachtet, sodass
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