Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
unterwürfig.
Alte Krabbe musterte ihn und fügte dann laut hinzu, damit es auch alle vor der Hütte hören konnten: »Du bist ein Stück Fleisch auf meinem Hackblock. Ich kann dich in Scheiben schneiden oder in Würfel hacken. Ich kann mit dir machen, was ich will. Und das tue ich auch, wenn ich Lust dazu habe.«
»Ich verstehe«, antwortete Papa, während wir anderen stumm dastanden.
»Eins noch«, fiel ihm dann ein. »Hast du Zigaretten?«
Papa zog ein Päckchen der Marke »Große Eisenbrücke« aus seiner Tasche. Als er eine Zigarette herausnehmen wollte, riss ihm Alte Krabbe das ganze Päckchen aus der Hand, schüttelte sich eine Zigarette heraus und steckte die übrigen in die Tasche. »Feuer?«
Papa zündete ihm die Zigarette an, worauf Alte Krabbe kehrtmachte und, gefolgt von den anderen, verschwand.
In den nächsten Tagen befragte Alte Krabbe Papa ausführlich über seine Vorgeschichte. Mit Entzücken stellte er fest, dass Papa lesen, schreiben und rechnen konnte und ihm zudem völlig ausgeliefert war. Denn Alte Krabbe brauchte einen Schreibkundigen, der ihm behilflich war. »Es war mir immer ein Dorn im Auge, dass jemand auf der Brigadeebene unsere Bücher führt. Sie haben dort kein Verständnis für unsere Probleme vor Ort. Aber jetzt habe ich dich.«
Er betraute Papa damit, über die Arbeitspunkte, die er jedem im Dorf zuteilte, Buch zu führen. Zu diesem Zweck holte Alte Krabbe das Geschäftsbuch aus dem Brigadehauptquartier und erläuterte Papa, wie die Arbeitspunkte vergeben wurden. Männer erhielten zehn Punkte pro Arbeitstag, Frauen sieben und Kinder drei. Zehn Arbeitspunkte entsprachen einem Wert von zwanzig Fen. Auch sich selbst schrieb Alte Krabbe jeden Tag zehn Punkte gut. Wie er Papa erklärte, sei sein Engagement für die Partei und seine Aufsicht über die anderen die wichtigste Arbeit im Dorf.
Nach nur einem Monat in Gao wurde Papa so krank, dass er nicht mehr in Alte Krabbes Hütte kommen konnte, um die Einträge vorzunehmen. Er hatte Malaria. Daraufhin brachte Alte Krabbe das Buch jeden Abend zu ihm. Im Dorf war ständig jemand krank. Die Leute wuschen ihre Kleider in demselben Teich, aus dem sie ihr Trinkwasser schöpften. Auf der gegenüberliegenden Seite des Teichs spülten die Dorfbewohner ihre Nachttöpfe aus. Wir schütteten Alaun in unser Wasser und kochten es ab. Da sich auf dem Boden unseres Krugs Schlamm und andere Partikel absetzten, verwendeten wir nur das obere Wasser.
Danach bekam Papa einmal monatlich hohes Fieber und fiel oft in ein Delirium. Schweißgebadet wälzte er sich auf seinem Bett herum. Oft rief er während dieser Anfälle auf Englisch: »Lang lebe der Vorsitzende Mao!« und brach dann in hysterisches Gelächter aus.
Ich konnte ein wenig Englisch und verstand, was er sagte. Mutter war besorgt, dass er etwas auf Chinesisch rufen könnte. Sein Gelächter konnte ihn leicht in Schwierigkeiten bringen, wenn ihn jemand hörte und als Konterrevolutionär anzeigte. Solange er beim Englischen blieb und die Dorfbewohner glaubten, er rede nur Unsinn, bestand keine Gefahr.
Ich war in unserer Familie das kränklichste Kind. Alle paar Wochen ging es mir so schlecht, dass mich die Dorfbewohner auf einer Bambusmatte zum Kommunenkrankenhaus tragen mussten. Als ich bei meinem ersten Klinikaufenthalt zur Latrine ging, stellte ich fest, dass ein Exemplar von
David Copperfield
als Toilettenpapier bereitlag. Während ich über dem Betonabtritt kauerte, nahm ich das Buch zur Hand und las die erste Seite. Da merkte ich, wie sehr mir das geschriebene Wort fehlte, und erinnerte mich an meine Begeisterung, als ich den Bücherhaufen vor dem Gebäude in Hefei entdeckt hatte. Ich las weiter, bis ich jemanden kommen hörte. Dann stand ich auf, steckte das Buch unter das Unterhemd und zog meine Bluse darüber. Eine Frau kam herein, sah mich, suchte nach Toilettenpapier, fand keines und ging wieder. Als ich hinausging, kam sie mir gerade mit einem anderen dicken Buch entgegen.
Ich versteckte den Roman unter meinem Kopfkissen. In den nächsten Tagen gelang es mir, Teile von
Anna Karenina
und
Eine Geschichte zweier Städte
zu retten. Als ich wieder gesund war, nahm ich sie mit nach Hause. Und jedes Mal, wenn ich wegen irgendeiner Krankheit in der Klinik war, stahl ich mehrere Bände »Toilettenpapier«.
Kurz nach Papas Ankunft erhielt Alte Krabbe vom »Kommunenbüro für Landsiedler-Kader« Geld, um unserer Familie eine neue Unterkunft zu bauen. Er steckte es in die eigene Tasche
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