Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
uns die Stücke aus den Opern beigebracht, die Maos Frau gutgeheißen hatte. Nun sang ich sie Chunying vor und erzählte ihr die Geschichten dazu. Und sie lauschte lächelnd.
Als die Sommerferien dem Ende zu gingen, hatte sie meine Schuhe fast fertig. Sie waren großartig geworden. Die Sohlen waren weiß, die oberen Teile mit winzigen bunten Blumen bestickt.
»Wunderschön«, hauchte ich, als sie sie mir gab. Ich konnte es kaum fassen, dass sie jetzt mir gehören sollten. Behutsam fuhr ich mit dem Finger über die Blümchen und bewunderte die kunstvollen Nähte an den weißen Sohlen.
»Man darf sie nur zu besonderen Anlässen tragen«, sagte Chunying. »Am Neujahrstag oder wenn man Verwandte in anderen Dörfern besucht.«
Bevor ich an jenem Abend schlafen ging, wusch ich mir in einem Wasserbecken die Füße. Dann zog ich die Schuhe an. Damit sie nicht schmutzig wurden, legte ich mich aufs Bett, streckte die Füße hoch und machte Gehbewegungen in der Luft, als liefe ich auf einer Wolke.
Am nächsten Morgen bat ich Mama, mit mir einen Besuch bei Verwandten in Tianjin zu machen. Sie erwiderte, das sei viel zu weit weg. »Aber ich möchte dorthin«, beharrte ich. »Ich muss ihnen meine neuen Schuhe zeigen. Mama, ich gehe auch gerne den ganzen Weg barfuß und ziehe meine Schuhe erst an, wenn wir dort sind.«
»Diese Schuhe haben dir den Verstand geraubt«, sagte Mama. »Stell sie weg.«
Ich wusste beim besten Willen nicht, wo ich sie auf dem Land tragen konnte. Und so wurden sie zu einem ganz besonderen, ungenutzten Schatz. Jeden Abend nahm ich sie heraus, zog sie an und strampelte damit in der Luft. Den Erdboden berührten sie nie.
Zehn Monate später ergab sich ein besonderer Anlass, bei dem ich meine Schuhe endlich tragen konnte. Als Chunying und ich auf einem Feld saßen und den Büffel hüteten, fing sie plötzlich an zu schluchzen.
»Was ist los?«, fragte ich. So traurig hatte ich sie noch nie gesehen.
»Ich werde heiraten«, antwortete sie.
»Und warum ist das so schlimm?«
»Weil ich in ein anderes Dorf ziehen muss. Weil ich dich nie wiedersehen werde. Und weil ich meinen Bräutigam noch nicht einmal kennengelernt habe.«
»Ich werde dich besuchen kommen«, versprach ich ihr. »Egal, wohin du ziehst, Chunying, ich werde dich besuchen.«
Wie auf dem Land üblich, war ihre Heirat von den Eltern arrangiert worden. Der Dorftradition zufolge durften sich Braut und Bräutigam bis zur Hochzeit nicht sehen. Erst wenn sie heirateten, bekamen sie einander zu Gesicht.
Weil Chunyings Familie arm war, hatte sie mit einer Familie aus dem Dorf Bao einen Handel vereinbart: Chunying sollte mit dem Sohn der anderen Familie vermählt werden, und ihr Bruder würde die Tochter heiraten. So sparte man sich die Mitgift. Diese Abmachung erschien allen fair und ausgewogen. Allerdings bedrückte es Chunying, dass sie überhaupt nichts über ihren Zukünftigen und seine Familie wusste – sie kannte nur den Namen seines Dorfes. Sie hoffte, er würde nicht grausam oder hässlich sein. Und sie nicht schlagen.
Ich war traurig. Chunying war meine beste Freundin. Ihre Heirat bedeutete, dass es mit den Geschichten, den Liedern und Schuhen vorbei sein würde. Nie mehr würden wir zusammen auf einem Wasserbüffel reiten und den Sonnenuntergang hinter den überfluteten Reisfeldern betrachten.
Als Chunyings Mutter, Tante Chen, mich bat, ihrer Tochter als »rechte Hand« behilflich zu sein und sie ins Dorf des Bräutigams zu begleiten, war ich sehr glücklich.
Am Morgen des Hochzeitstages zog ich meine besten Kleider an: eine saubere weiße Bluse mit einem grünen Blümchenmuster und meine am wenigsten geflickte dunkle Hose. Ich kämmte mir gründlich das Haar und flocht es zu zwei makellosen Zöpfen. Zu guter Letzt holte ich die Schuhe hervor, die Chunying mir gemacht hatte. Doch als ich sie anziehen wollte, passten sie nicht mehr. Betrübt stellte ich sie weg. »Keine Chunying mehr. Keine Schuhe mehr«, flüsterte ich, den Tränen nahe, vor mich hin. Also brach ich barfuß zu Chunyings nahe gelegener Hütte auf.
Dort hatten sich schon zahlreiche Leute versammelt. An der Tür klebten rote Papierblätter mit goldenen Scherenschnitten darauf, die das Doppelglück-Zeichen darstellten.
»Meinen Glückwunsch, Tante Chen«, begrüßte ich Chunyings Mutter.
»Ah, sieh mal einer an«, erwiderte sie und strich mir über das Haar. »Deine Zöpfe sind ganz wundervoll und so dick wie Babyarme. Wenn du einmal heiratest, wirst du eine sehr
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