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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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sich die Männer selbst ins Joch spannen mussten. Die Obhut über die Büffel wurde den Familien mit halbwüchsigen Mädchen übertragen, wofür diese wiederum Arbeitspunkte erhielten. Die Mädchen hüteten die Tiere beim Weiden, brachten sie zum Trinken an Wasserläufe, fütterten sie mit Bündeln aus Reis und Stroh und sperrten sie abends in ihren Gehegen ein.
    Unseren Nachbarn, der Familie Chen, war einer dieser Büffel anvertraut worden. Die fünfzehnjährige Chen Chunying – sie war drei Jahre älter als ich – trieb das Tier jeden Nachmittag zu einer Weide. Nachdem wir uns kennengelernt hatten, begleitete ich sie häufig. Wir kletterten zusammen auf den Büffel und ritten zu einem grünen Flecken in der Nähe des Flusses. Dort setzten wir uns auf den Boden und redeten und sangen, während er neben uns graste.
    Eines Nachmittags begann Chunying, ein Paar Schuhe anzufertigen. Die Bauern trugen nur zu besonderen Anlässen und im Winter Schuhe, und sie stellten sie selbst her.
    »Wo hast du gelernt, Schuhe zu machen?«, fragte ich und staunte über ihre Geschicklichkeit beim Zuschneiden und Nähen.
    »Meine Großmutter hat es mir beigebracht«, antwortete Chunying. »Hat es dir denn niemand gezeigt?«
    »Meine Großmutter ist gestorben. Und meine Mutter weiß nicht, wie das geht.«
    »Dann bringe ich es dir bei«, erklärte sie. »Du siehst mir zu, und wenn du es gelernt hast, kannst du dir deine eigenen Schuhe machen.«
    Also schaute ich zu und prägte mir ihre Anweisungen ein. Sie fertigte die Schuhe aus alten Kleidungsstücken. Hemden und Hosen, die zu zerlumpt und zu häufig geflickt waren, um sie noch zu tragen, wurden in kleine, flache Stoffstücke geschnitten. Sorgfältig klebte Chunying sie schichtweise mit einem Kleister aus Mehl und Wasser zusammen und ließ sie in der Sonne trocknen und aushärten. Dann nähte sie die Stücke mit Hunderten feiner Nadelstiche zusammen. Langsam nahmen die Sohle und das Oberteil des Schuhs Gestalt an. Die Arbeit zog sich über mehrere Wochen hin. Ich staunte über Chunyings Geduld und Kunstfertigkeit.
    Eines Abends bat ich meine Mutter um Stoffreste, um mir selbst Schuhe zu machen. »Schuhe machen?«, wiederholte sie. »Wozu, um alles auf der Welt, soll das gut sein? Lies lieber Bücher. Dann hast du eine Zukunft.«
    Ich erzählte Chunying, dass mir meine Mutter verboten hatte, Schuhe anzufertigen. Sie überlegte einen Moment und meinte: »Ich mache dir ein Paar Schuhe, und du liest mir bei meiner Arbeit vor. Was hältst du davon?«
    »Das würdest du wirklich tun?«, fragte ich aufgeregt.
    »Aber ja«, erwiderte sie. »Lies mir schöne Geschichten vor, und ich mache dir schöne Schuhe.«
    Wir hatten ein paar Bücher aus Hefei mitgebracht – Papas geliebten
Jean-Christophe
und
Die Elenden
 –, außerdem hatte ich ein paar von der Latrine des Kommunenkrankenhauses gestohlen. Mama bewahrte unsere Bücher stapelweise neben dem Herd auf und ließ jeden neugierigen Besucher wissen, dass sie zum Verfeuern gedacht waren. Am nächsten Nachmittag zog ich mit einem Exemplar der
Elenden
los. Wir setzten uns ins Gras, Chunying nähte, und ich las ihr vor. Die Passagen, in denen das Leben von Cosette geschildert wurden, gefielen ihr besonders gut. Oft bat sie mich, die Wörter langsam zu wiederholen, und hörte mit geschlossenen Augen zu. An einem warmen, trägen Nachmittag sagte sie: »Ich bewundere dich, weil du lesen kannst, Yimao. Wie schaffst du das nur? Und so dicke Wälzer!«
    »Geh mit mir zur Schule, Chunying, dann lernst du auch lesen«, erwiderte ich. »Es ist leichter als Schuhe zu machen!«
    »Meine Eltern sagen, das ist Zeitverschwendung«, meinte sie. »Ich wollte hingehen, aber sie haben mich nicht gelassen. Dabei war ich immer schon wissbegierig.«
    »Ist das nicht komisch?«, meinte ich. »Meine Eltern behaupten, Schuhe zu machen ist Zeitverschwendung.«
    »Was denkst du, Yimao? Glaubst du, dass wir beide nur unsere Zeit verschwenden?«
    »Nein, das glaube ich nicht«, antwortete ich.
    Sie grinste und meinte: »Das wird aber gleich passieren, wenn du nicht weiterliest.«
    »Wo bleiben meine Schuhe?«, rief ich, und wir lachten.
    In jenem Sommer trieben wir jeden Tag den Wasserbüffel zur Weide, und ich las Chunying aus
Die Elenden
vor. Wenn meine Augen müde wurden, sang ich ihr die Lieder vor, die ich in der Schule gelernt hatte. Und Chunying nahm alles dankbar auf. Es kam mir vor, als wäre ich eine Opernsängerin und sie meine einzige Zuhörerin. Man hatte

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