Federschwingen
Gartenzaun. Niemand zuvor hatte es geschafft, so an ihn heranzukommen. Nicht, seit …
Nein, er wollte nicht mehr an ihn denken. Das war lange Zeit vorbei.
Erael legte sich auf sein Bett, hielt es aber nicht lange aus, die Zimmerdecke anzustarren, weil dadurch seine Gedanken weiter rasten. Er wuchtete sich herum, boxte sein Kissen zurecht und vergrub sein Gesicht darin. Blind tastete er nach dem Federbett und zerrte es über sich, bis er von Kopf bis Fuß darunter verschwunden war. Lediglich die Flügel ragten links und rechts über die Bettkanten hinaus. Endlich gab sein Verstand Ruhe und er konnte sich mit anderen Problemen beschäftigen, die wesentlich wichtiger waren. Mit Norton zum Beispiel und dem verpassten … Mist!
Erael sprang aus dem Bett wie an einer Feder gezogen. Er musste Norton anrufen! Mit zusammengebissenen Zähnen einen für Engel unflätigen Fluch unterdrückend, kramte er in einem Regal nach seinem Handy. Als er es schließlich in den Händen hielt, hätte er es am Liebsten gegen die Wand geworfen. Natürlich war der Akku leer und sein Ladegerät nirgendwo zu finden. Wahrscheinlich hatte er es irgendwo im Haus liegen gelassen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als nach unten in den Wohnbereich zu gehen, und von dort aus zu telefonieren. Wo ihn jeder hören konnte. Vor allem Jelial … Ganz toll, wirklich .
So leise wie möglich begab er sich unten in den Büroraum, in dem ebenfalls ein Telefon stand. Das in der Wohnstube war nicht schnurlos, sondern ein altes Gerät mit Wählscheibe, das vom Stil her zwar wunderbar in die Einrichtung passte, aber fürchterlich unpraktisch war. Daher wollte Erael das Handteil aus dem Büro holen, das sich natürlich nicht an Ort und Stelle befand. Warum auch, wenn man es mal brauchte?
Ihm blieb keine Wahl, er musste das elfenbeinfarbene Telefon mit der geringelten Schnur nehmen. Es dauerte eine geraume Weile, bis er die Nummer vollständig über die Wählscheibe eingegeben hatte. Gleich darauf meldete sich Norton am anderen Ende der Leitung.
„Hallo, Frank! Es tut mir leid, dass ich unseren Termin gestern Abend vergessen habe! Ich war verhindert.“
„Ja, schon in Ordnung. Aber ich muss dich dringend sprechen“, antwortete Frank Norton. „Ich hab da Probleme mit einem Jungen. Es wäre hilfreich, wenn du mal mit ihm reden könntest.“
Erael wusste aus Erfahrung, dass Norton seine Hilfe nicht ohne Grund anforderte. Es musste also wesentlich schlimmer sein als lediglich ein ‚ Problem ‘ . Er vermutete, dass dieser Junge eine tickende Zeitbombe war, die jederzeit explodieren konnte. Es war also keine Option, das Gespräch mit Norton und seinem Teenie verschieben zu wollen. Zudem lenkte Arbeit bekanntlich ab – was ihm sehr entgegenkam.
„In Ordnung. Ich brauche etwa drei Stunden, bis ich bei dir bin. Reicht das?“
Es mochte ihm vielleicht nur so vorkommen, aber er glaubte, Norton erleichtert aufatmen zu hören.
„Vollkommen, Erael. Danke.“
Damit war das Telefonat beendet. Erael legte den Hörer auf die Gabel und seufzte leise. Ein Glück, dass Norton nicht gefragt hatte, warum er erst in drei Stunden bei ihm sein konnte. Könnte er fliegen, würde es keine halbe Stunde dauern … Erael knurrte leise. Heute ging auch wirklich alles schief! Dazu noch diese dämliche Mauser! Warum passierte so etwas immer, wenn man es am wenigsten brauchen konnte?
Nach einer heißen Dusche und einem Kleidungswechsel fühlte Erael sich besser und gesellschaftsfähig. Sein langes Haar band er zu einem Zopf und zog einen olivfarbenen Pullover und eine Jeans an. Langsam wurde es kühler, aber heute war ein schöner Herbsttag. Bei Nortons Jugendwohnheim angekommen, platzte Erael direkt in eine hitzige Diskussion zwischen zwei Halbwüchsigen, die bereits ins Handgreifliche überging.
Ein Jugendlicher hatte den anderen am Kragen gepackt und schüttelte ihn. „Willst du mich anmachen, oder was?“
„Wohl eher du mich. Pack mich nicht an, du ...“
„Was ist denn hier los?“, fragte Erael in einem freundlichen Ton. Trotzdem stemmte er die Hände in die Hüften und schaute auf die Jungs hinunter, die kleiner waren als er, obwohl er eine Stufe weiter unten auf der Treppe stand.
„Wenn ihr eure Konflikte weiterhin auf diese Weise klärt, ist der Weg bis zum Jugendknast nicht weit.“
„Und? Was geht dich das an? Bist wohl auch so ’ ne Schwuchtel wie der da!“, sagte der Junge mit dem Basecap verächtlich, der den anderen nach wie vor im Griff hatte.
Auf
Weitere Kostenlose Bücher