FEED - Viruszone
wäre nicht das erste Mal«, sagte Shaun und streifte mir die Testeinheit über die Hand. Ich streckte die Finger so sehr, dass die Sehnen hervortraten, und bedeutete ihm mit einem Nicken, dass er das Gerät schließen sollte. Die Verschlussklappe fixierte meine gespreizte Hand wie einen Seestern.
»Ich irre mich nicht«, sagte ich. Dumpfer Schmerz bohrte sich in meine Hand, als die Nadeln – eine pro Finger und fünf, die kreisförmig in der Mitte der Handfläche angeordnet waren – hervorschossen und Blutproben entnahmen. Die Lichter auf dem Gerät fingen an zu blinken, wurden erst grün und dann gelb. Eine Weile blinkten sie gelb, bis sie eines nach dem anderen die Farbe annahmen, bei der sie blieben.
Rot. Jedes einzelne. Rot.
Tränen brannten mir unter den Lidern. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, worum es sich handelte, und dann musste ich dem Drang widerstehen, sie zurückzuhalten. Kellis-Amberlee hat mich nie weinen lassen. Jetzt würde es mich verdammt noch mal nicht mehr am Weinen hindern. »Ich hab euch doch gesagt, dass ich recht hatte.« Ich versuchte, heiter zu klingen, aber stattdessen klang meine Stimme verloren.
»Jetzt tut dir das sicher leid«, antwortete Shaun. Ich hob den Kopf und schaute ihm in die schockstarren Augen.
So saßen wir eine ganze Weile da, schauten einander an und warteten auf eine Antwort, die niemand geben würde. Schließlich war es Rick, der etwas sagte und die eine Frage stellte, auf die keiner von uns antworten wollte.
»Was machen wir jetzt?«
»Machen?« Shaun schaute ihn mit gerunzelter Stirn an. Er wirkte ehrlich verblüfft. Seine Miene machte mir Angst, weil er nicht zu begreifen schien, dass ich in Kürze alles tun würde, um ihn bei lebendigem Leib aufzufressen. »Was meinst du damit, ›was machen wir jetzt‹?«
»Ich meine das, was ich gesagt habe«, erwiderte Rick. Er schüttelte den Kopf und deutete auf mich. »Wir können sie hier nicht einfach so zurücklassen. Wir müssen … «
» Nein! «
Shauns vehemente Reaktion ließ mich aufschrecken. Ich wandte mich zu ihm um. » Nein? «, wiederholte ich. »Shaun, was zum Teufel meinst du mit ›Nein‹? Es gibt keinen Spielraum für ein ›Nein‹. Es ist Schluss mit ›Nein‹.«
»Du weißt nicht, was du da sagst.«
»Ich weiß genau, was ich sage.« Rick war blass und zitterte. Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn. Der arme Kerl. Als er sich der sogenannten »Gewinnerseite« angeschlossen hatte, war von politischen Morden nicht die Rede gewesen. Trotzdem schaute er mir, ohne zu blinzeln, in die Augen und versuchte nicht, meinem Blick auszuweichen. Er sah das Virus nicht zum ersten Mal. Das Geschehen barg keine Überraschungen für ihn. »Du bist der nächstbeste Ersatz für einen Virologen, den wir haben, Rick. Wie viel Zeit habe ich?«
»Wie viel wiegst du?«
»Höchstens zweiundsechzig Kilo.«
»Dann würde ich unter normalen Umständen sagen fünfundvierzig Minuten«, antwortete er nach kurzem Überlegen. »Aber die Umstände sind nicht normal.«
»Das Rennen«, sagte ich.
Er nickte. »Das Rennen.«
Der Ablauf einer Virenvermehrung hängt von vielen Faktoren ab. Alter, körperliche Verfassung, Gewicht – und wie schnell das Blut zu dem Zeitpunkt zirkuliert, an dem man mit dem aktiven Virus in Berührung kommt. Wenn jemand im Schlaf gebissen wird, ohne dabei aufzuwachen, dann kann es bis zum Morgen dauern, bis die Vermehrung abgeschlossen ist, weil ein ruhender Körper die Infektion nicht weiter beschleunigt. Ich hingegen hatte eine Virenladung abbekommen, die weit größer als das war, was man in einem normalen Biss fand, und zwar während ich mit pochendem Herzen um mein Leben gerannt war und das Adrenalin meinen Blutdruck hochgejagt hatte. Wahrscheinlich hatte ich nur die Hälfte der Zeit. Wenn nicht weniger.
Das Denken fiel mir bereits schwerer, das Konzentrieren, das Atmen . Vom Verstand her wusste ich, dass meine Lungen mir nicht den Dienst versagten. Es war nur das Virus, das das weiche Gewebe meines Gehirn umschloss und begann, normale neurologische Funktionen zu stören, wodurch ich mir über Körperfunktionen bewusst wurde, die normalerweise von allein abliefen. Ich hatte die Arbeiten und die Studien darüber gelesen. Ich wusste, was mich erwartete. Erst kommen die Konzentrationsschwierigkeiten, die Interesselosigkeit, die Unfähigkeit, Zusammenhänge herzustellen. Dann kommt die Hyperaktivität, wenn das Kreislaufsystem auf Hochtouren gebracht wird. Und dann, bei
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