Feenkind
Doch als sich Lenutas Finger fest und warm um ihre Handfläche schlossen, spürte sie Angst sich eiskalt um ihr Herz legen. Und plötzlich erkannte sie auch den Grund dafür. Sie war nicht wie Chris, sie war nicht wie die meisten anderen Menschen. Sie glaubte an Prophezeiungen, auch wenn sie einem nichts Gutes verhießen.
Lenuta blieb relativ lange über Dhalias Hand gebeugt. Sie drehte sie mal in die eine, mal in die andere Richtung, um das Licht der Kerzen besser einfangen zu können. Sie schien völlig vergessen zu haben, dass die Hand noch immer an einem Körper hing. Dhalia und Chris tauschten einen verblüfften Blick über Lenutas merkwürdiges Benehmen aus. Dhalia spürte, wie ihre Anspannung nachließ, da sie das ganze zunehmend lächerlich fand.
Schließlich ließ Lenuta ihre Hand los und fixierte sie mit einem besorgten Blick. Sofort spürte Dhalia einen Kloß in ihrem Hals aufsteigen und auch Chris richtete sich alarmiert auf.
"Was ist los? Was hast du gesehen?" verlangte er zu wissen.
Die alte Frau schüttelte verständnislos den Kopf. "Nichts. Ich habe rein gar nichts gesehen."
Chris atmete erleichtert aus.
Nichts
war sehr viel besser als ein naher Tod.
"Dann habe ich also kein Schicksal", meinte Dhalia leichthin, in dem Versuch, ihre Verwirrung zu überspielen.
"Sei doch keine Närrin!" fuhr Lenuta sie an. "Natürlich hast du ein Schicksal. Jedes Lebewesen hat eins."
"Aber was ist dann mit mir los?"
Lenutas Blick wurde weicher, als sie das besorgte junge Mädchen vor sich sah. "Nichts ist mit dir los, Kind. Ich kann nur nichts über dein Schicksal sagen." Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern. "Du folgst einem Pfad, der nicht für dich bestimmt war."
Chris fand, dass Lenuta ihre Darbietung nun endgültig übertrieb. Ein Spaß war ja gut und schön, aber damit konnte wohl kein Mensch etwas anfangen. Doch ein Blick in Dhalias kreidebleiches Gesicht belehrte ihn eines besseren. Für sie ergaben Lenutas Worte anscheinend doch einen Sinn.
"Du weißt es!" flüsterte die alte Frau fassungslos, als sie Dhalias Reaktion auf ihre Worte bemerkte.
Diese nickte ganz leicht. "Wird es mir gelingen?" fragte sie leise.
"Das weiß ich nicht, Kind." Bedauernd schüttelte Lenuta ihren Kopf. "Dein Schicksal bleibt mir verborgen." Als Dhalia tapfer nickte, wandte Lenuta sich Chris zu. "Deine Hand, Chris", befahl sie und streckte ihre eigene fordernd aus.
"Wieso denn?" fragte er argwöhnisch. Ihre letzte Weissagung gefiel ihm nicht besonders. Er wollte nicht auch noch eine ähnliche bekommen.
"Ich werde das Gefühl nicht los, dass sich deine Zukunft seit unserem letzten Treffen erheblich verändert hat", sagte sie streng mit einem Seitenblick zu Dhalia. Wenn sie gekonnt hätte, sie hätte ihm auf der Stelle befohlen, das Mädchen mit ihrer gefährlichen Suche allein zu lassen.
Widerstrebend reichte Chris ihr die Hand.
"Dein Schicksal ist im Wandel", murmelte sie, während sie seine Handfläche drehte und wendete. "Bald musst du dich entscheiden. Wenn du dem einen Weg folgst, liegt das sichere Mittelmaß vor dir." Sie blickte kurz hoch und nuschelte kaum wahrnehmbar: "Bedenke, sicheres Mittelmaß ist gar nicht so übel." Dann wandte sie sich wieder seiner Hand zu. "Und du wärst der Herr deiner selbst. Folgst du aber dem anderen Weg, kannst du höchstes Glück oder aber schlimmste Qual erfahren. Und die Entscheidung darüber liegt nicht in deiner Hand." Feierlich ließ sie seine Handfläche los.
Chris betrachtete seine Hände neugierig und ein wenig verstört, als versuchte er, all das, was Lenuta gerade gesagt hatte, darin zu lesen. "Was bedeutet das?" fragte er schließlich.
"Das bedeutet, dass du dich für einen Weg entscheiden musst. Der eine verspricht dir ein ruhiges Leben - ruhig nach deinen Maßstäben", setzte sie trocken hinzu. "Darin kannst du selbst entscheiden, was du alles für Geld, Abenteuer und schöne Frauen zu riskieren bereit bist. Dies ist dein altes Schicksal. Es liegt noch immer vor dir, hörst du? All das, was du immer haben wolltest."
"Und der andere?"
"Wenn du dich für ihn entscheidest, hast du keinen Einfluss darauf, was geschehen wird."
"Ein Glücksspiel also?" fasste Chris locker zusammen.
Lenutas Blick wurde wieder streng. "Es ist kein Spiel, Chris", sagte sie eindringlich. "Es ist dein Leben."
"Vorausgesetzt natürlich, man glaubt an die Weissagerei." Er grinste frech, doch seine Augen blickten sehr ernst.
Plötzlich erhob sich Dhalia von ihrem Sitz. "Ich gehe ein wenig frische Luft
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