Feenkind
Gedanken zu vertreiben.
Dhalia konzentrierte sich darauf, ihren Atem gleichmäßig fließen zu lassen. Sie wollte nicht, dass Chris den Aufruhr bemerkte, der in ihr herrschte. Es war nicht ihr Schicksal, dem sie folgte! Nun, das hatte sie bereits gewusst und es auf einer rationalen Ebene akzeptiert. Doch in den letzten Wochen war es ihr erfolgreich gelungen, dieses Wissen zu ignorieren. Das selbst gesetzte Ziel füllte sie immer mehr aus, so dass für Zweifel kein Platz blieb. Es jedoch als eine Tatsache aus dem Mund einer alten Frau zu hören, die sie kaum kannte - das war etwas ganz anderes.
Woher sollte sie wissen, ob es nicht ein fataler Fehler war, ihrem Plan zu folgen? Einmal war sie bereits nur mit sehr viel Glück dem Tod entkommen. Wie konnte sie so anmaßend sein, zu glauben, dass dieses Glück anhalten würde? Und welches Recht hatte sie eigentlich, Chris mit hinein zu ziehen? Auch ihn hatte sie bereits in Gefahr gebracht, dennoch blieb er bei ihr. Er war bereit, sein Leben zu riskieren - und das wegen einer Lüge. Denn sie war sich sicher, dass er ihr nicht länger folgen würde, wenn er die Wahrheit wüsste.
Ach, es würde alles so viel einfacher sein, wenn sie zu ihm ehrlich sein könnte. Doch das durfte niemals passieren. Sie spürte, dass er es ihr niemals verzeihen würde. Schwer lastete ihr Geheimnis auf ihr. So schwer, wie noch niemals zuvor. Wenn sie nur mit jemandem sprechen, sich einen Rat holen könnte. Aber da war niemand. Sie war ganz auf sich allein gestellt, damit musste sie allein zurecht kommen. Warum sie? Noch vor wenigen Monaten war sie so glücklich gewesen - sie hatte ein Zuhause, Eltern, eine Bestimmung. Und nun, was hatte sie nun? Nicht einmal ihren Namen.
Neben ihr auf dem Boden wälzte sich Chris im Schlaf herum. Sie lächelte leicht. Du hast noch Chris, sagte eine leise Stimme in ihrem Kopf. Ja, doch auch ihn werde ich eines Tages verlieren, dachte sie traurig. Den einzigen echten Freund, den ich außer meinen Eltern jemals hatte. Wenn die Dinge nur etwas anders stehen würden, wie froh wäre sie über seine Gegenwart. Doch so erinnerte er sie nur beständig daran, was sie eines Tages verlieren würde. In ohnmächtiger Wut schloss Dhalia die Augen. In diesem Augenblick verabscheute sie sich selbst.
Irgendwann schlief sie schließlich ein. Und der Traum kehrte zurück. Sie hatte ihn in der letzten Zeit immer öfter geträumt. Er war nie genau gleich, meistens konnte sie sich nach dem Aufwachen nicht einmal richtig an ihn erinnern. Sie erinnerte sich an nichts, außer dem Gefühl leiser Wehmut, das er bei ihr hinterließ. Doch jedes Mal, wenn sie ihn träumte, begrüßte sie ihn wie einen alten Bekannten. Ihrem Traum-Ich war er gut vertraut, auch wenn ihr Verstand ihn beim Erwachen hartnäckig verdrängte. Es war kein ereignisreicher Traum. Eigentlich war es nur ein Gesicht, das mal deutlicher, mal verschwommener vor ihr auftauchte und eine ganze Welle von Gefühlen in ihr auslöste. Noch niemals zuvor war es ihr gelungen, das Gesicht anders als durch einen Schleier oder Nebelvorhang zu sehen, und ganz gewiss hatte es noch nie zu ihr gesprochen.
Doch dieses Mal war es anders. Das Gesicht blickte klar und scharf bis ins kleinste Detail auf sie herunter. Und grüne Augen, den ihren so auffallend ähnlich, blickten sie zärtlich an. Arme in weiten, durchsichtig schimmernden Ärmeln streckten sich nach ihr aus und überwanden ihren leichten Widerstand in dem brennenden Verlangen, Dhalia an ihre Brust zu ziehen.
Eine solche Zärtlichkeit lag in dieser Geste, dass Dhalia unwillkürlich Tränen in die Augen traten. Sie spürte, wie sich ihre ganze Anspannung und Angst in einer Tränenflut lösten. Hemmungslos schluchzte sie, den Kopf an die warme Brust der Traum-Frau gedrückt, bis der Kloß in ihrem Hals sich allmählich auflöste und die Beklemmung von ihrem Herzen wich. Und die ganze Zeit über streichelten Hände ihren Kopf und ihren Rücken, mit nicht nachlassender Sanftheit und Stärke.
Als sich Dhalia langsam beruhigte, merkte sie, dass die Frau zu ihr sprach. Ihre Stimme klang wie das Plätschern eines Gebirgsbaches - klar, hell, beruhigend und doch mit großer, unter der Oberfläche verborgener Kraft. "Erinnere dich, mein Kind", sagte die Frau sanft. "Erinnere dich und kämpfe nicht dagegen an. Du brauchst keine Zweifel zu haben und keine Angst." Gütig lächelte sie auf Dhalia hinab und streichelte sanft ihre Wange. "Du bist stark genug, stärker, als du jetzt vielleicht noch
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