Feenkind
Chris gewiss schon früher aufgefallen, dass der Hof und der Garten nicht klassisch rechtwinklig angelegt waren, doch er hatte sich nichts weiter dabei gedacht. Vielleicht ließ sich der Wald ja nicht anders roden.
"Ich bin vorhin einmal um das gesamte Gelände gelaufen. Es erinnert mich an das Symbol, das ich in dem Feenbuch gesehen habe, die Lichtskulptur, weißt du noch?"
Chris nickte erstaunt. Sie hatte Recht. Wieso nur war ihm das nicht früher aufgefallen? Er blickte sich um und sah Lenuta an die Wand gelehnt stehen. "Ist das ein Feenort?" fragte er sie plötzlich misstrauisch.
Die Alte lachte herzhaft auf. "Nur weil man bei der Konstruktion des Hauses auf bestimmte elementare Dinge achtet, macht das ein Haus noch lange nicht zu einem magischen Ort." Sie kam langsam näher. "Doch Dhalia hat schon Recht. Der Ort an sich ist gut gewählt. Es ist ein Knotenpunkt uralter Feenlinien, die das gesamte Reich durchziehen. Viel Energie kann jemand daraus schöpfen, der seinen Geist zu öffnen versteht." Sie sah Dhalia anerkennend an. "Solche Menschen sind jedoch sehr selten. Und noch nie ist mir jemand begegnet, der es tun kann, ohne es selbst zu wissen."
Verlegen wandte Dhalia den Kopf ab, doch anscheinend hatte Lenuta nicht vor, dieses Thema weiter zu verfolgen. "Das Frühstück ist fertig", informierte sie sie. "Lasst uns essen und dann mache ich mich an eure Karte, damit ihr möglichst bald zu eurem Abenteuer zurückkehren könnt."
Während Lenuta arbeitete, nutzte Dhalia die Gelegenheit, sich die Kräutervorräte genauer anzuschauen. Immer wieder griff sie nach einem Bündel Kräuter, zerrieb ein trockenes Blatt zwischen den Fingern und schnupperte vorsichtig daran. Ab und zu fragte sie die alte Frau auch, wozu die eine oder andere Pflanze gut war, wenn sie sie nicht einzuordnen wusste. Schließlich fiel ihr Blick auf etwas, das auf allen drei Fensterbänken in dem Raum lag. Neugierig trat Dhalia näher und nahm es in die Hand. Es war eine durchgeschnittene Frucht, die sie noch nie gesehen hatte. Sie war blass gelblich-grün gefärbt und hatte eine dünne, leicht federnde Haut. Das Ungewöhnlichste daran war jedoch ihre Form - im Querschnitt erinnerte sie Dhalia schon wieder an das Feensymbol.
"Bitte leg das wieder genau an seinen Platz zurück, wenn du fertig bist", sagte Lenuta mit einem kleinen Seitenblick.
Sofort leistete Dhalia der Aufforderung Folge. "Was ist das?" fragte sie, als sie die Frucht wieder in die Mitte der Fensterbank legte.
"Eine Hirealis."
"Davon habe ich noch nie etwas gehört."
"Das glaube ich gern. Sie wird auch Feenfrucht genannt. Früher war sie hier überall heimisch gewesen, doch nun ist sie so gut wie ausgerottet. Dafür haben die Menschen schon gesorgt."
"Aber weshalb?" Dhalia machte einen Schritt zurück und betrachtete aufmerksam die so harmlos aussehende Frucht aus sicherer Entfernung.
Lenuta gluckste amüsiert. "Du kannst sie ruhig anfassen, sie tut dir nichts, ganz im Gegenteil." Auf Dhalias fragenden Blick hin sprach sie weiter. "Ich habe in jedem Fenster eine stehen, sie ziehen einen Bannkreis um das Haus, eine Art schützende Linie", erläuterte sie.
"Ihr meint, sie ist magisch?" Zögernd streckte Dhalia ihre Hand so aus, dass sie in gerader Linie zwischen zwei Früchten lag. Tatsächlich meinte sie ein leichtes Kribbeln zu spüren. Es hätte allerdings auch ihre Einbildung sein können.
"So könnte man es sagen. Aber andererseits sind es die meisten Dinge."
"Wie meint Ihr das? Es ist sicher nichts Magisches an meinem Rucksack oder an Eurem Messer."
"Nein, nichts, das von Menschen gemacht ist. Doch die Natur ist voller Magie. Und die Hirealis ist es besonders. Die Alten Feen haben das gewusst. Daher haben die Menschen die Frucht beinahe ausgerottet."
"Wieso?"
"Die Alten Feen hatten gewusst, dass Magie, oder die Essenz, wie sie es nannten, alle lebendigen Dinge durchdringt. Sie erkannten, dass sie Teil des Lebens war, und verstanden es, sie zu nutzen. Kaum jemandem ist heute noch bewusst, dass die Macht der Alten Feen weniger aus ihnen selbst heraus als aus der sie umgebenden Welt stammte - der Erde, der Sonne, den Pflanzen. Die Menschen haben das nie verstehen können, selbst die Dunkelfeen haben das Geheimnis vergessen. Daher werden sie immer ein blasser Abklatsch ihrer Vorfahren bleiben, umso gefährlicher, je unwissender sie sind.
Aber so unwissend und ignorant die Menschen auch sein mögen, dumm sind sie nicht. Schnell hatten sie erkannt, dass die Feen bestimmte Pflanzen,
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