Feenkind
vor ihr liegende Blatt, um die verblassten Schriftzüge besser erkennen zu können. "Es ist sehr schwer zu entziffern. Wir werden wohl einige Zeit brauchen, um es durchzulesen."
"Oh", sagte Dhalia enttäuscht. Irgendwie hatte sie geglaubt, dass sie ein Buch finden würde, in dem die Antworten auf alle ihre Fragen stehen würden. Jedenfalls war das bisher immer so gewesen. Aber bisher waren meine Fragen ja auch sehr viel einfacher gewesen, dachte sie finster. "Wird man dich nicht in der Bibliothek vermissen, wenn du hier unten mit mir bist?" fragte sie Kalla plötzlich besorgt.
"Nein, nein. Ich habe heute frei", beruhigte diese sie, während sie einige Seiten überblätterte. "Das ist nur das Vorwort", erklärte die Bibliothekarin dann, als sie Dhalias fragenden Blick bemerkte.
"Können wir das Buch nicht einfach mitnehmen und Zuhause lesen?"
Erschrocken sah Kalla auf. "Du hast vielleicht Ideen. Diese Bücher dürfen diesen Raum nicht verlassen. Kannst du dir denn nicht vorstellen, wie gefährlich sie für jeden sind, der sie in den Händen hält? Es ist schon riskant genug, dass wir uns überhaupt hier drin aufhalten." Sie neigte sich wieder über das Buch.
Lange Zeit murmelte sie leise vor sich hin und blätterte die Seiten weiter, während Dhalia gelangweilt die Spinnen in den Ecken des Raumes beobachtete. Sie hätte gern etwas mehr getan.
Schließlich blickte Kalla hoch und sagte: "Ich glaube, ich habe etwas gefunden. Ich verstehe zwar nicht alles, aber genug, um den Sinn zu erfassen."
Sie fuhr mit dem Finger die Zeilen nach, während sie sich bemühte, den Inhalt für Dhalia zu übersetzen. "Vor Tausenden von Jahren hat das gesamte Land, das wir kennen, den Feen gehört. Sie bewohnten hauptsächlich die Wälder zwischen den zwei Gebirgsketten im Osten und Westen des Reiches. Irgendwann waren dann die ersten Menschen über das große Wasser im Osten gekommen und haben sich am Fuß des Gebirges niedergelassen. Die Feen hatte das nicht gestört, als die Menschen anfingen, das Ufer und die Berge zu bevölkern. Doch die Menschen vermehrten sich schnell und binnen weniger Jahrhunderte drangen ihre Niederlassungen tief in das Feenreich hinein. Die Feen konnten also nicht länger die Existenz der Menschen ignorieren. Sie mussten eine Entscheidung treffen, wie sie mit diesem neuen und für sie so fremdartigen Volk umgehen wollten. Es bildeten sich drei starke Gruppierungen heraus, die für sich das Recht beanspruchten, den richtigen Weg zu kennen. Schließlich führte dies zu einer Zersplitterung des Feenvolkes, da keine Seite von ihrer Sichtweise abweichen wollte.
Ein Teil der Feen wollte mit den Menschen überhaupt nichts zu tun haben. Sie suchten sich einen Lebensraum, in den die Menschen ihnen niemals folgen konnten, so dass sie sich nie wieder mit diesem störenden kurzlebigen Volk beschäftigen mussten. Sie machten das Wasser zu ihrer neuen Heimat und brachen jede Verbindung zu der Außenwelt ab. Zwischen den anderen beiden Gruppen wurden heftige Diskussionen geführt, denn jede Gruppe sah den eigenen Weg als den richtigen an, während der andere Weg unweigerlich zur Vernichtung der Feenwelt führen musste.
Ein Teil war den Menschen gegenüber aufgeschlossen. Sie meinten, dass beide Völker voneinander lernen könnten. Aus dieser Intention heraus entstanden die sagenumwobenen Feenhügel, auf denen Menschen und Feen einander begegnen konnten. Später wurden diese Gruppe der Feen ‚Blaufeen' genannt. Es ist bis heute nicht geklärt, woher sich der Name eindeutig ableitet. Es ist möglich, dass sie von ihren Gegnern so genannt wurden, weil sie den Menschen gegenüber allzu blauäugig und vertrauensselig waren. Der Name kann sich aber auch aus ihrer Gewohnheit ableiten, nachts auf ihren Feenhügeln zu tanzen, wobei ihre Flügel im Mondschein silbrigblau schimmerten.
Doch nur wenige Menschenfamilien nahmen das Freundschaftsangebot der Blaufeen an, was die dritte Gruppierung noch mehr in ihrem Recht bestärkte. Sie glaubten, dass die Menschen, die immer weiter in ihr Reich vordrangen, eine ernste Bedrohung für ihr Volk darstellten. Zuerst versuchten sie, Angst unter den Menschen zu verbreiten, ohne eine direkte Konfrontation zu riskieren. Sie ließen die Ernte auf den Feldern verdorren, machten das Vieh und die Kinder der Menschen krank und erschufen die Irrlichter, die die Menschen in Sümpfen und Flüssen in den Tod lockten. Einige Zeit sah es so aus, als hätten sie Erfolg damit, denn die Menschen trauten sich kaum
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