Feenkind
widerstrebte es ihr, den sicheren Unterschlupf, den ihre Freundin ihr geboten hatte, zu verlassen. "Danke, Kalla, danke für alles."
"Gern geschehen, Liebes." Mit Tränen in den Augen schloss sie das Mädchen in ihre Arme. "Mögen die Guten Geister dich behüten", flüsterte sie, während sie Dhalia fest an ihre Brust drückte.
"Danke", murmelte die junge Frau. Sie löste sich aus der Umarmung, packte ihre Sachen und ging schnell zur Tür hinaus, bevor Kalla in ihrem Blick die Angst entdecken konnte, die sie vor ihrer ungewissen Reise empfand.
Am ersten Tag ihrer Rittes nach Marterim kam Dhalia gut voran. Sie ließ Bruno im gleichmäßigen Tempo die meist menschenleere Landstraße entlang laufen, vorbei an bestellten Feldern, kleinen Dörfern und unberührten Wiesen. Am späten Nachmittag veränderte sich die Landschaft langsam und die ersten Ausläufer des großen Dornop-Waldes erschienen zu ihrer Linken.
In der zunehmenden Abenddämmerung wirkte der Wald ziemlich bedrohlich und so lenkte Dhalia ihr Pferd zu einem der kleinen Dörfer, die sie von der Straße aus erkennen konnte, in der Hoffnung, dort eine warme Mahlzeit und einen Unterschlupf für die Nacht zu bekommen.
Sie hatte Glück. Gleich in dem ersten Haus, an dessen Tür sie klopfte, wurde ihr ein Schlafplatz in der Scheune angeboten. Die Hausherrin lud Dhalia auch dazu ein, das Abendmahl zusammen mit der Familie einzunehmen. Die Menschen machten einen rechtschaffenen und freundlichen Eindruck und schienen froh über einen Gast zu sein, der ihnen Neuigkeiten aus anderen Teilen des Reiches berichten konnte.
"Was ist eigentlich Euer Reiseziel?" erkundigte sich die Hausherrin neugierig beim Essen.
"Marterim", sagte Dhalia knapp. "Ich will dort meine Verwandten besuchen", setzte sie hinzu, als sie merkte, dass ihre Gastgeberin sich eine detailliertere Auskunft erhoffte.
"Oh, das tut mir aber leid", teilte die Hausherrin ihr bedauernd mit. "Anscheinend habt Ihr den bisherigen Weg umsonst auf Euch genommen. Die Straße nach Marterim ist unpassierbar."
"Unpassierbar?" Überrascht blickte die junge Frau auf. "Wie meint Ihr das?"
"Wegen der starken Regenfälle ist der Sokok über die Ufer getreten und hat die Straße überflutet."
"Seit wann ist das so?"
"Die Nachricht ereilte uns gestern, als viele Reisende kurz vor ihrem Ziel umkehren mussten, weil sie nicht weiterkamen."
"Wie lange wird es dauern, bis die Straße wieder frei ist?"
"Das kann man nicht mit Sicherheit sagen. So gut zehn bis vierzehn Tage kann es schon dauern."
"So lange kann ich aber nicht warten!" rief Dhalia erschrocken aus. "Meine Tante ist krank", fügte sie schnell als Erklärung für ihren Ausbruch hinzu. Enttäuscht wischte sie sich mit den Händen über das Gesicht. "Gibt es denn keinen anderen Weg?"
"Ich fürchte, nein", mitfühlend schüttelte die andere Frau ihren Kopf. "Ihr müsst wohl warten, bis das Wasser fällt, und hoffen, dass es Eurer Tante dann wieder besser geht."
Das Mädchen nickte. Zehn Tage waren eine ungeheure Verzögerung für ihre Reise, obwohl sie selbst nicht genau wusste, wieso Zeit eine Rolle spielen sollte. Vielleicht war es einfach das Gefühl, untätig herumzusitzen, während viel Arbeit auf sie wartete, das sie so hasste.
"Danke für das Essen", sagte Dhalia schließlich. "Ich bin sehr müde und würde mich jetzt gern zurückziehen."
"Aber sicher doch", nickte die Wirtin. "Ich zeige Euch den Weg."
Als sie endlich allein war, holte die junge Frau die Karte hervor, die ihr Kalla zum Abschied mitgegeben hatte. Ihre Gastgeberin hatte Recht. Die Landstraße von Annubia nach Marterim schien tatsächlich die einzige Verbindung zwischen den beiden Orten zu sein. Und wenn sie überschwemmt war, bestand wenig Hoffnung, das überschwemmte Gebiet umgehen zu können, da sie nicht genau wusste, wie groß es war. Aufmerksam besah sie sich die große dunkle Fläche, die den Dornop-Wald darstellte. Kein Weg, kein Pfad war auf der Karte verzeichnet. Das hieß aber noch lange nicht, dass er völlig unpassierbar war, dachte Dhalia trotzig. Wenn sie auf halbwegs direktem Weg den Wald durchquerte, schien ihr der Abstand zum Sokok auch weit genug, um nicht von der Überschwemmung betroffen zu sein. Sie würde also den Weg durch den Wald wagen. Der Dornop würde sich schon nicht stark von den anderen Wäldern, die sie bisher kennen gelernt hatte, unterscheiden. Beruhigt über diesen Entschluss, löschte das Mädchen die Laterne und schlief bald ein.
Am nächsten Morgen konsultierte sie
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