Feenland
ersten
Kategorie, das kann auch der teure Anzug aus anthrazitgrauem
Wollstoff nicht verbergen. Das Doppelkinn wird durch ein rotes
Halstuch kaschiert, und ein schwarzer, breitkrempiger Hut ist so tief
in die Stirn gezogen, daß sein gerötetes rundes Gesicht
wie der Mond bei einer partiellen Finsternis aussieht. Er fragt
eindringlich: »Haben Sie die Täter gesehen, Dr. Gray? Waren
es kleine Geschöpfe, aber keine richtigen Kinder? Waren es Feen?
Sie wissen, was ich damit meine? Wenn die Feen Sie erspäht
haben, schweben Sie in Gefahr! Ich möchte Ihnen
helfen.«
Morag steigt in das Taxi und wirft dem Mann die Tür vor der
Nase zu. Als der Wagen anfährt, beugt sich der Dicke vor und
ruft durch die Glasscheibe: »Alex Sharkey! Mein Name! Rufen Sie
mich an!«
6 Der dicke Mann
Armand beobachtet, wie der dicke Mann dem Taxi nachschaut. Armand
drückt sich nervös in den Schatten der Topfpflanzen, die zu
beiden Seiten des Wohnblock-Eingangs stehen. In diesem Teil der Stadt
mit seinen ordentlichen Mietshaus-Reihen fällt er aus dem
Rahmen. Seine Lederjacke ist an einer Schulter zerrissen, sein Haar
hängt lang und fettig herunter, und er riecht nach dem Qualm der
Holzfeuer. Er hat sich zu lange in der Randzone herumgetrieben. Die
Adresse, die ihm die Zwillinge gaben, war nicht leicht zu finden, und
als er ein Café betrat, um nach dem Weg zu fragen, wies ihm
der Besitzer die Tür und drohte mit der Polizei.
Zumindest erkannte Armand die Frau sofort. Das Feenvolk hat ihr
Foto aus dem Computer-Archiv der Polizei – sie ist
Ausländerin und deshalb bei der Polizei registriert. Dort fand
sich auch ihre Adresse und ihr Arbeitplatz, aber wie sollte Armand
nahe genug an sie herankommen, wenn sie beim Verlassen des Hauses
sofort in ein Taxi sprang? Und dann ist da noch der Dicke. Die
Zwillinge sagten kein Wort von diesem dicken Mann.
Armand beschließt, ihm zu folgen. Die Zwillinge wissen nicht
alles, und der Mann könnte wichtig sein. Außerdem kann
Mister Mike, obwohl er ihm ständig im Nacken sitzt, nur dann auf
den Plan treten, wenn Armand nahe genug an die Frau herankommt. Und
das will er nicht, weil dann etwas Böses geschieht. Wenn Mister
Mike auf den Plan tritt, geschieht immer etwas Böses.
Er geht schnell, dieser dicke Mann. Er scheint sein Ziel zu
kennen. Armand folgt ihm in sicherer Entfernung. Die breiten
Gehsteige sind holprig und von Schlaglöchern übersät,
und auch die Straße weist Schlaglöcher auf, manche
groß genug, um einen Stadt-Mini zu verschlingen. Ein Strom von
Menschen und Geld ergießt sich in die Arkologien, und eines
Tages wird der Rest der Welt leer und verlassen sein. Das zumindest
glauben die Feen. Und wenn es soweit ist, wollen sie die Städte
übernehmen und das Erbe der Welt antreten.
Nicht viele Leute sind um diese Zeit unterwegs. Sie sind alle
daheim, in ihren kleinen, in den Himmel gestapelten Boxen, beim
Abendessen, beim Fernsehen, basteln an den kleinen Phantasiewelten,
die sie in der virtuellen Realität angelegt haben, oder
verlieren sich in den interaktiven Primetime-Welten von Neue
Wunder oder der Geheimgeschichte des 20. Jahrhunderts. Armand war mit den Zwillingen dort, aber er durfte nichts
verändern, nur zuschauen. Die Zwillinge straften ihn mit
Verachtung, als er nicht begriff, weshalb sie sich so brennend
für eine bestimmte virtuelle Person interessierten. Eines
Tages, sagten sie, werden wir in dieser Welt umhergehen, wie
es uns gefällt, aber erst, wenn sie von dort
zurückkehrt.
Eine alte Frau, die ihren kleinen Hund spazierenführt,
mustert Armand im Vorbeigehen. Armand zeigt ihr den Stinkefinger und
bereut die Geste sofort. Er sollte besser unsichtbar bleiben. Er
weiß, daß so etwas möglich ist, wenn man fest daran
glaubt, daß man nicht gesehen werden kann, wenn man wirklich
ganz fest daran glaubt.
Er übt das Unsichtbarsein, während der dicke Mann an
einem kleinen, eingezäunten Park vorbeigeht, dessen Rasen
sattgrün im Schein der Biolum-Straßenlaternen leuchtet.
Dahinter erstreckt sich eine Baustelle. Einer der alten
Wohnblöcke wird mit Stromalith-Fassaden verschönert. Unter
der Aufsicht eines gelangweilten Polizisten lassen zwei Männer
mit gelben Schutzhelmen eine Gruppe Arbeiterpuppen in Reih und Glied
antreten. Ein weißer Lieferwagen rollt heran, und der Dicke
bleibt stehen. Zwei Typen mit dem Gehabe von Spezialisten steigen
aus.
Armand überquert die Straße, um zu beobachten, was der
Dicke beobachtet: Die Puppen werden eine nach
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