Feenland
Kerzenflammen schimmert auf
Katarinas kahlgeschorenen Schädelpartien zu beiden Seiten des
Leopardenfell-Streifens – es ist echter Pelz, vermutlich das
Produkt einer Genmod-Hautbehandlung.
Die Einrichtung besteht aus einem verknautschten Schlafsack in
einer Ecke des Raums, Bergen von stockfleckigen alten
Taschenbüchern, die an einer Wand gestapelt sind, ein paar
Klappstühlen und einer Computer-Anlage mit VR-Brille und
-Handschuhen. Der Computer ist mit einer Telefon-Steckdose verbunden;
ein einziges rotes Licht verrät, daß er aktiv ist. Die
Risse im Vinylmaterial der Handschuhe sind mit silbrigem Isolierband
geflickt.
Alex kehrt von irgendwo aus den Tiefen des Hauses zurück,
beißt in ein Stück Kuchen und sagt mit vollem Mund:
»Er kommt.«
»Wer?« will Morag wissen.
»Ein Freund«, erklärt Alex. »Das Haus hier ist
wie für uns geschaffen. Abseits gelegen, unbeachtet und nach
hinten durch den Schienenstrang abgeschirmt, auf dem vor allem die
Nachtzüge unterwegs sind. Jeder, der einen Schlafwagen-Platz am
Gare du Nord bucht, kommt hier vorbei, aber kaum jemand macht sich
die Mühe, aus dem Zugfenster zu schauen.«
»Allem Anschein nach seid ihr nur vorübergehend
hier«, sagt Morag.
Alex macht es sich bequem, nicht auf einem der Klappstühle,
die vermutlich unter seinem Gewicht zusammenbrechen würden,
sondern auf dem Teppich. Es dauert eine Weile, bis er sitzt, und er
atmet schwer. »Ich habe Kat vor etwa drei Jahren in Amsterdam
kennengelernt«, sagt er schließlich. »Sie hat mir
damals aus einem Schlamassel geholfen.«
»Glaubst du wirklich, daß sie diese Dinge wissen
muß?« fragt Katrina.
»Die Feen hatten Kats Bruder entführt«, fährt
Alex fort. »Sie verfolgte ihre Spur. Ich ebenfalls, aber aus
einem anderen Grund. Ich suchte nach der Frau, die das Magic Kingdom
begründet hatte – wobei es mir immer noch schwerfällt,
sie als Frau zu bezeichnen. Ich lernte sie in London kennen, und
damals hatte sie das Aussehen eines harmlosen kleinen Mädchens.
Sie schuf aus einer Puppe die erste Fee, und es gelang ihr, mitsamt
dieser Fee unterzutauchen. Bald darauf folgten andere ihrem Beispiel,
aber sie war die erste. Sie verbreitete die Idee, und sie brachte die
Chips und die nötige Nanotechnik in Umlauf. Seither setze ich
alles daran, sie zu finden.«
Katrina beginnt die Melodie von ›That Old Black Magic‹
zu summen.
»Das kann durchaus stimmen.« Alex zuckt die Achseln.
»Ich glaube, sie hat mich mit irgend etwas infiziert, um sich
meine Loyalität zu sichern. Verzauberung ist wie Liebe, nur
sitzt sie tiefer, in jeder Zelle. Ich bin nie auf sie selbst
gestoßen, nur auf Hinweise und Spuren. Aber ich bin jetzt
sicher, daß sie in Paris lebt. Oder daß sie zumindest bis
vor kurzem hier lebte. Was wissen Sie über diese Morde,
Morag?«
»Welche Informationen bekomme ich von Ihnen?«
»Woran ist Ihnen denn besonders gelegen?«
»Erstens will ich den kleinen Jungen retten.«
Alex wechselt einen Blick mit Katrina und nickt dann.
»Okay.«
»Ihr glaubt, daß er tot ist.«
»Nein, nicht tot. Eher – verändert. Aber vielleicht
können wir ihn noch zurückholen. Sie haben ihn noch nicht
lange in ihrer Gewalt.«
»Scheiße!« sagt Katrina. Sie verläßt
abrupt den Raum und hämmert im Hinausgehen mit der Faust gegen
den Türrahmen. Die Kerzenflammen tanzen auf und ab wie Boote im
sturmgepeitschten Meer.
»Mit ihrem Bruder geschah das gleiche«, sagt Alex. Er
zieht ein Gefäß aus einer Reißverschlußtasche
in seinem Wams, dreht den Deckel herum, bis es knackt, fischt mit
zwei Fingern Bohnen und Würstchen heraus und stopft sie sich in
den Mund. Schmatzend fügt er hinzu: »Sie entführten
ihn, als er drei war, und es vergingen vier Jahre, bis wir ihn
fanden. Keine Chance…«
»Aber den Kleinen haben diese Dinger erst seit ein paar
Tagen.«
»Feen. Stellen Sie sich unter diesem Begriff niemals
›Dinger‹ vor. Sie sind lebendige, atmende, autonome
Geschöpfe. Sie sind Feen. Von ihr wurden sie übrigens nicht
so genannt. Daß sie heute so heißen, könnte meine
Schuld sein.«
»Sie meinen – dieses Mädchen. In London.«
Morag hat das Gefühl, im Kreis zu denken.
»Das Mädchen. In London.« Alex taucht die Hand tief
in das Gefäß, um die letzten Bohnen herauszuangeln, und
leckt sich Tomatensauce von den Fingern. »Was wollten Sie noch
wissen?«
»Die Polizei behauptet, daß Jules…«
Alex wartet, geduldig wie ein Berg.
Endlich stößt Morag hervor: »Mein Freund, der vor
der
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