Feenring (German Edition)
man tagsüber in einen Fluss schaue, sähe man sein Spiegelbild. Wenn man aber in einer mondlosen Nacht hineinsähe, könne man bis auf den Grund blicken. Sie hatte gesagt: »Du hast die Finsternis gesehen, Persephone, deshalb kannst du Dingen auf den Grund schauen. Du erkennst die Schönheit der glatten Steine, du musst aber auch den Schlamm spüren, der sie bedeckt. Schlamm, der dich, wenn du nicht aufpasst, wo du hintrittst, straucheln lassen wird … «
Ich war gestrauchelt. Ich war mit Schlamm besudelt, der mich zu jemandem machte, der ich nicht sein wollte. Ich wollte nicht unempfindlich sein gegen Kummer, kalt und gleichgültig. Ich wollte stark und verwundbar sein.
Im nächsten Augenblick stand ich und schlug die Krallen in die trübe emotionale Schicht. Riss ein Loch hinein und entließ die Gefühle, denen ich mich verweigert und die ich abgewehrt hatte. Ich wankte schluchzend tiefer in den Fluss, versuchte, diese Gefühle zu nutzen, sie in Wut und Zorn zu verwandeln, um die Brandmauer mit ihrem Furor einzureißen. Doch das Leid wogte zu mächtig, die Brandmauer war zu dick. Je mehr ich gegen den Schutzschild anrannte, desto tiefer wurde das Gefühl. Ich zerrte unnachgiebig, bis meine Finger in der Meditation bluteten.
In der Mitte des Flusses, als Trauer, Furcht, Verlust und Zweifel aus mir heraus und über meine Wangen flossen, stolperte ich: Die Strömung packte mich und riss mich unter die Wasseroberfläche.
26
Der Fluss riss mich mit, trug mich unaufhaltsam fort, verspottete mich, stellte mich auf die Füße und ließ mich ein paar Schritte das Ufer hinauf waten. Ich würgte und spie. Dann schlug eine neue Welle zu, drückte mich erneut unter Wasser. Die Strömung vereitelte meine Anstrengungen, an die Oberfläche zu gelangen, wirbelte mich herum, zermalmte mich und machte jeden Versuch zunichte.
Die Gefühle waren zu stark. Ich wollte sie nicht wahrhaben.
Unter Wasser, ertrinkend, rang ich mit der rauschenden Flut, zu stur, um aufzugeben. Dann tauchte ich zwischen weiß schäumenden Stromschnellen auf, schnappte nach Luft und stürzte im nächsten Augenblick einen Wasserfall hinab. Unten blieb ich hängen, unter dem Gewicht des Wassers begraben, das auf mich herabrauschte.
Doch. Wollte ich. Es waren meine.
Mir blieb nur noch dieser Kampf. Ich krümmte mich und suchte Halt an den Kanten großer Felsbrocken. An ihnen zog ich mich weg von der zerstörerischen Wucht des Wasserfalls, die mich gefangen gehalten hatte. Doch dann riss mich die Strömung aufs Neue mit sich fort, und dieses Mal würde sie mich nicht mehr an die Oberfläche lassen.
Ich dachte an das, was ich zu Menessos gesagt hatte, darüber, wie es war, seine Herrin zu sein und sich damit abzufinden. Im Guten wie im Bösen. Dabei hatte ich mich nicht mal mit den guten und schlechten Gefühlen in meinem eigenen Leben abgefunden. Wie sollte ich eine Welt ins Gleichgewicht bringen, wenn ich nicht mal meine eigene Mitte fand und mich nicht mit dem Guten und Bösen abfinden konnte, dem ich mich unweigerlich stellen musste?
Ich trat Wasser und streckte mich nach dem Grund, schrammte auf der Suche nach etwas, das schwer genug war, um mir als Anker zu dienen, mit blutenden Händen über das Flussbett. Dann klammerte ich mich an den ersten großen Stein, der mir unter die Finger geriet.
Die Strömung zog an mir, riss mich samt Stein los, zerrte mich langsam über den Grund, schleifte meine Finger übers Geröll. Doch ich ließ nicht los.
Ich würde mich nicht hinwegreißen lassen. Von keinem Gefühl! Ich akzeptierte, was das bedeutete. Das Gute und das Böse. Das Gute und das Böse!
Dann spülte der Fluss mich und den Stein auf das lehmige Ufer. Ich fiel auf den Rücken. Meine Arme flogen hinter meinen Kopf, um den Stein im weichen Boden hinter mir zu versenken.
Über mir neigte sich ein Laubbaum mit tief hängenden Ästen. Ich wollte mich aufsetzen, doch mein Stein lastete schwer auf meinem Haar. Nachdem ich mich im Morast gewunden hatte, ohne dass meine Kraft ausgereicht hätte, den Stein des Anstoßes wegzurollen, gelang es mir endlich doch, mich aufzurichten. Ich wollte mich erheben und losstapfen, doch die Äste des riesengroßen Baumes hinderten mich am Aufstehen.
Ich blieb, wo ich war, und dachte nach. Der Fluss hatte mich unter einer mit struppigem Moos behängten Trauerweide ausgespuckt. Als ich mehr von meiner Umgebung erkannte, sah ich vor mir keinen Fluss mehr, sondern einen See, dessen Oberfläche so ultramarinblau und glatt
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