Feenzorn
all dem flüchtigen Weiß erschreckend stabil wirkte. Ich entfernte mich einen Schritt davon, um ihn überblicken zu können. Es war ein Tisch mit einer massiven Steinplatte, dessen Beine so dick wie die Säulen in Stonehenge waren. Auf den Stein waren Runen graviert, die mir bekannt vorkamen. Nordisch vielleicht? Einige wirkten jedoch eher ägyptisch. Anscheinend stammten sie aus vielen verschiedenen Sprachen und waren insgesamt für mich nicht zu entziffern. Abermals zuckten unter uns Blitze, blauweißes Licht erfasste den Tisch und die Runen, so dass sie einen Moment lang grell wie die Neonreklame in Las Vegas aufflammten.
»Davon habe ich schon mal gehört«, sagte ich nach kurzem Überlegen. »Es ist lange her. Ebenezar nannte ihn den Steintisch.«
»Ja, mein Kind«, flüsterte meine Patentante. »Blut ist Macht.
Das Blut, das jemand auf diesem Stein vergießt, stärkt auf ewig die Macht desjenigen, der ihn gerade innehat.«
»Was meinst du damit?«
Mit leuchtenden grünen Augen nickte sie. »Ein halbes Jahr lang liegt der Tisch im Reich des Winters. Die andere Hälfte gehört er dem Sommer.«
»Also wechselt er den Besitzer.« Jetzt verstand ich es. »Mittsommer und Mittwinter.«
»Genau. Momentan hält der Sommer den Tisch, aber nicht mehr lange.«
Ich trat näher heran und streckte eine Hand aus. Rings um den Tisch vibrierte die Luft, schlug gegen meine Finger und erzeugte sogar sichtbare Wellen auf der Haut wie ein starker Wind. Dann berührte ich die Oberfläche des Tischs und spürte seine Macht. Ein Summen, das durch die Runen strömte, wie der elektrische Strom durch Hochspannungskabel läuft. Meine Hand wurde schlagartig heiß, und ich zog sie erschrocken zurück. Meine Finger waren taub, und die Nägel der beiden Finger, mit denen ich den Stein berührt hatte, waren an den Rändern schwarz. Rauchwölkchen stiegen von ihnen auf.
Ich schüttelte die Hand aus und wandte mich an meine Patentante. »Damit ich es richtig verstehe – wenn auf diesem Tisch Blut vergossen wird, dann verstärkt dies die Macht des jeweiligen Besitzers. Das wäre derzeit der Sommer, nach der morgigen Nacht der Winter.« Schweigend nickte Lea.
»Ich verstehe allerdings nicht, warum er so wichtig ist.«
Darauf schritt sie langsam im Uhrzeigersinn um ihn herum, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Der Tisch ist nicht nur ein Objekt der Macht, mein Junge. Er ist auch ein Kanal. Blut, das auf seiner Oberfläche vergossen wird, nimmt mehr als nur das Leben mit sich.«
»Die Macht des Opfers«, überlegte ich. Dann runzelte ich die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn also beispielsweise hier das Blut eines Magiers vergossen würde…«
Sie lächelte. »Dann würde daraus große Macht entstehen. Die Macht und Magie der Sterblichen würde der Königin in die Hände fallen, die gerade den Tisch beherrscht.«
Ich schluckte und wich einen Schritt zurück. »Oh.«
Lea vollendete ihre Runde um den Tisch und blieb neben mir stehen. Verstohlen sah sie sich um, dann flüsterte sie mir zu: »Falls du diesen Konflikt überleben solltest, dann lass dich nicht von Mab hierherbringen. Niemals.«
Es lief mir kalt den Rücken hinunter. »Ja, ist gut.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich verstehe immer noch nicht, was du mir eigentlich sagen willst. Warum ist der Tisch so wichtig?«
Sie machte eine Geste nach links und rechts zu zwei Hügeln, die einander an den Wänden des Tals gegenüberlagen. Erst betrachtete ich den einen, aber das Bild verschwamm mir vor Augen. Dann denn anderen, und auch dort wurde mein Blick unscharf. »Ich kann nichts erkennen«, gab ich zu. »Ein Schleier oder so etwas.«
»Wenn du verstehen willst, musst du sehen.«
Langsam atmete ich tief durch. Magier können Dinge aufdecken, die den meisten Menschen verborgen bleiben. Man nennt es den Magierblick oder das Dritte Auge, und es hat noch viele andere Namen. Wenn jemand seinen Magierblick einsetzt, kann er die Kräfte der Magie selbst beobachten. Sprüche erscheinen ihm wie Perlenketten mit hellen Lichtern, er kann Schleier durchdringen wie die Projektionen auf einer Leinwand. Der Magierblick zeigt uns die Dinge, wie sie wirklich sind. Das ist auf die eine oder andere Weise immer ein verstörendes Erlebnis. Was man mit dem Magierblick wahrnimmt, vergisst man nie wieder. Ob gut oder schlecht, es bleibt so frisch in der Erinnerung, als hätte man es gerade eben erst erlebt. Mit vierzehn habe ich einmal ein kleines Baumwesen betrachtet, als ich
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