Feenzorn
hatte.
»Verdammt, murmelte ich, wer sind diese Leute?«
Schließlich setzte ich dies auf die Liste der Fragen, die sprossen wie der Fußpilz in einem Umkleideraum.
Ronald Reuels Beerdigung hatte bereits begonnen, als ich eintraf. Flannery’s Funeral Home in River North war bis vor wenigen Jahren ein Familienunternehmen gewesen. Eine alteingesessene Firma, die einen guten Ruf genossen hatte. Inzwischen waren die früher so sorgfältig modellierten Büsche großen Felsbrocken gewichen, die zweifellos einfacher zu pflegen waren. Der Parkplatz hatte viele Risse bekommen, und draußen brannte nur die Hälfte der Lampen. Das Hinweisschild, ein beleuchteter Kasten aus Glas und Plastik mit der Aufschrift RUHE – TRAUERZEREMONIE, strahlte grellgrün und blau über dem Eingang.
Ich stellte den Käfer ab, steckte das Foto ein und stieg aus. In das Beerdigungsunternehmen konnte ich meinen Stab oder meinen Sprengstock schlecht mitnehmen. Die Leute, die nicht an Magie glauben, beäugen einen komisch, wenn man mit einem großen Prügel herumläuft, auf den Runen und Siegel geschnitzt sind. Wer von den Trauernden aber Bescheid wusste, hätte darauf ebenso reagiert wie auf einen Besucher, der breitbeinig wie John Wayne mit Munitionsgürteln und einer großkalibrigen Maschinenpistole in jeder Hand eingetreten wäre. Drinnen waren möglicherweise genügend Trauergäste beider Gruppen, also trug ich nur unauffällige Dinge bei mir – meinen fast erschöpften Ring, mein Schildarmband und den silbernen Drudenfuß, den meine Mutter mir geschenkt hatte. Mein Spiegelbild in der Tür bewies, dass ich für diesen Anlass nicht richtig gekleidet war, aber ich war sowieso nicht hier, um für die Klatschspalten einen guten Eindruck zu machen. Ich betrat das Gebäude und suchte nach dem Raum, in dem sie Ronald Reuel aufgebahrt hatten.
Der alte Mann im Sarg trug einen grauen Seidenanzug, der leicht grünlich schimmerte. So ein Anzug hätte eher zu einem jüngeren Mann gepasst, außerdem schien er ihm etwas zu groß zu sein. In Tweed hätte er vermutlich besser ausgesehen. Der Bestatter hatte sich keine große Mühe gegeben, Reuel herzurichten. Die Wangen waren zu rot, die Lippen zu blau. Man sah sogar noch die Einstiche, wo sie seinen Mund mit dünnem Faden vernäht hatten, damit er nicht aufklaffte. Niemand würde glauben, dies sei ein alter Mann, der nur eingeschlummert war. Es war schlicht und ergreifend eine Leiche. Der Raum war ungefähr halb voll, die Leute standen in kleinen Gruppen beisammen, redeten und wanderten vor dem Sarg hin und her.
Niemand verharrte im Schatten und rauchte eine Zigarette, niemand sah sich rasch und aufmerksam um. Niemand verbarg eilig ein blutiges Messer hinter dem Rücken oder zwirbelte hämisch seinen Schnurrbart. Also war es doch nicht ganz so einfach, den Mörder zu finden. Vielleicht war er oder sie auch gar nicht hier.
Andererseits war es gut möglich, dass allerhand Feenwesen sich mit einem Schleier oder einem Zauber getarnt hatten, bevor sie hereingekommen waren. Allerdings haben selbst erfahrene Feen Probleme, als Menschen durchzugehen, ohne aufzufallen. Mab hatte zwar sehr gut ausgesehen, doch keineswegs normal. Genauso war es bei Grum gewesen. Ich meine, er hatte anfangs natürlich menschlich gewirkt, aber letzten Endes eben nur wie ein Komparse am Set von Die Unbestechlichen. Feenwesen beherrschen viele Dinge wirklich gut, nur sich unauffällig in eine Menschenmenge zu mischen gehört nicht dazu.
Jedenfalls kamen mir die Anwesenden vor wie Verwandte und Geschäftsfreunde. Niemand passte zu dem Foto, und niemand schien ein Feenwesen in einem schlechten menschlichen Kostüm zu sein. Entweder mein Instinkt hatte sich den Abend freigenommen, oder niemand benutzte einen Schleier oder Zauber. Eins zu null für die Bösen gegen Harry.
Unauffällig verließ ich den Trauerraum und kehrte gerade rechtzeitig auf den Flur zurück, um ein Stück weiter hinten ein leises Flüstern zu vernehmen, das meine Aufmerksamkeit erregte. Vorsichtig schlich ich weiter, bis ich etwas näher war, und lauschte.
»Das weiß ich nicht«, zischte eine männliche Stimme. »Ich suche sie schon den ganzen Tag. So lange war sie noch nie weg.«
»Das meine ich doch«, knurrte eine Frau. »So lange bleibt sie normalerweise nicht fort. Du weißt, wie es ihr geht, wenn sie zu lange allein ist.«
»Mein Gott«, schaltete sich eine dritte Stimme ein, der helle Tenor eines jungen Mannes. »Er hat es getan. Dieses Mal hat er es
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