Fehlfunktion
antwortete mit einem müden Lächeln, so gut sie konnte. Sie war dankbar, daß sie genauso mitarbeiten durfte wie alle anderen und keine Sonderrolle spielte. Jay hatte sich darauf getrimmt, beim Anblick des armen Mädchens nicht zusammenzuzucken. Das Gesicht der Sechsjährigen steckte in einer Bandage aus glänzendem, durchsichtigem Epithelgewebe mit Löchern, wo sich ihre Augen, der Mund und die Nase befanden. Shonas Brandwunden leuchteten noch immer grell und rosig unter den Membranstreifen, und ihr Haar hatte gerade erst wieder angefangen zu wachsen. Vater Horst meinte, daß sie wieder ganz gesund werden und keine Narben zurückbehalten würde, doch er war untröstlich, daß sie keine nanonischen Medipacks zur Verfügung hatten.
Husten und Brummen und lautes Kindergeschnatter erfüllte den Raum, als die Jungen und Mädchen sich aus den Schlafsäcken kämpften und in ihre Kleidung schlüpften. Jay sah den kleinen Robert, der niedergeschlagen neben seinem Schlafsack saß und den Kopf in die Hände stützte. Er machte keine Anstalten, sich anzuziehen. »Eustice, deine Aufgabe ist es, diesen Raum aufzuräumen, und ich möchte, daß die Decken heute alle vernünftig gelüftet werden.«
»Ja, Jay«, antwortete Eustice mürrisch.
Die Tür wurde aufgestoßen, und fünf oder sechs Kinder stürzten lachend nach draußen auf dem Weg zur Scheune, die ihnen als Toilette diente.
Jay suchte sich einen Weg über die Schlafplätze hinweg zu dem kleinen Robert. Er war erst sieben, ein dunkelhäutiger Junge mit dichten blonden Haaren. Jay sah auf den ersten Blick, daß die navyblauen Unterhosen feucht waren.
»Geh runter zum Bach«, sagte sie freundlich. »Du hast mehr als genug Zeit, um dich zu waschen, bevor das Frühstück fertig ist.«
Er senkte den Kopf noch weiter. »Ich wollte das nicht«, flüsterte er kleinlaut und den Tränen nahe.
»Ich weiß. Vergiß nicht, deinen Schlafsack ebenfalls auszuwaschen.« Sie hörte ein Kichern. »Bo, du wirst ihm helfen, den Schlafsack zum Bach zu tragen!«
»O Jay!«
»Schon gut«, sagte der kleine Robert. »Ich kann es auch allein.«
»Nein, kannst du nicht. Nicht, wenn du rechtzeitig zum Frühstück zurück sein willst.« Drei der Jungs hatten schon damit angefangen, den großen Tisch aus der Küche zu ziehen. Er scharrte laut über den Boden. Sie riefen den im Weg Stehenden zu, auf die Seite zu gehen.
»Ich sehe nicht ein, warum ich ihm helfen sollte«, beharrte Bo stur. Sie war acht, für ihr Alter zu dick und besaß rote Pausbacken. Jay benutzte ihre Größe und ihr Gewicht häufig, um die anderen Kinder zur Ordnung zu rufen.
»Schokolade«, sagte Jay warnend.
Bo errötete, dann stapfte sie zu Robert. »Dann mal los, komm schon.«
Jay klopfte einmal an Vater Horsts Tür und trat ein. Der Raum war das Elternschlafzimmer des Anwesens gewesen, als sie eingezogen waren, und das Doppelbett stand noch immer darin, doch der größte Teil der freien Fläche war vollgestellt mit Paketen, Krügen und Konservendosen, die sie aus den anderen verlassenen Gehöften mitgenommen hatten. Kleidung und Stoff und elektrische Werkzeuge, einfach alles, was klein oder leicht genug gewesen war, um getragen zu werden, füllte das zweite Schlafzimmer in Stapeln, die Jay bis über den Kopf reichten.
Horst stand gerade auf, als das Mädchen eintrat. Er hatte bereits die Hosen an, dicke Denimjeans mit Lederflicken, die Kleidung eines Farmarbeiters. Er hatte sie in einem der Gehöfte gefunden. Jay hob das verblichene rote Sweatshirt am Fußende des Bettes auf und reichte es Horst. Er hatte im Verlauf der letzten Wochen viel Gewicht verloren – hauptsächlich Fett –, und das verbliebene Fleisch hing schlaff an seinem Körper herab. Doch selbst die Falten wurden kleiner, und die Muskeln waren härter als jemals zuvor in seinem Leben, obwohl sie sich in der Nacht anfühlten, als stünden sie in heißen Flammen. Horst verbrachte den größten Teil seiner Zeit mit harter Arbeit, harter Arbeit mit Händen und Füßen: Er hielt das Blockhaus in Schuß, hatte den Palisadenzaun repariert und verstärkt, einen Hühnerhof gebaut und die Latrinen ausgehoben. Lediglich die Abende verbrachte er mit Gebeten und Lesestunden. Des Nachts fiel er in sein Bett, als wäre er von einem Riesen mit der Faust umgehauen worden. Horst hatte nie gewußt, daß ein menschlicher Körper zu derartiger Ausdauer in der Lage war, am allerwenigsten einer, der so alt und heruntergekommen war wie sein eigener.
Und doch wankte er
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