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Fehlschuss

Fehlschuss

Titel: Fehlschuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Geller
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Erde bekommen hatten.
    Nach dem Frühstück saßen sie still nebeneinander und lasen die
Tageszeitung. Es war schwierig, umzublättern, zu rauchen, ab und zu einen
Schluck Kaffee zu trinken und gleichzeitig Händchen zu halten. Aber sie waren
beide nicht gewillt, den Körperkontakt auch nur eine Sekunde zu unterbrechen.
Und es schien so, als lache „Grete“ noch breiter als gewöhnlich.
    „Ha!“, fuhr Karin plötzlich auf. „Diese dämliche Ziege!“
    „Wer?“
    „Na, die Redakteurin hier! Liz Pacholek!“ Sie spuckte den Namen
förmlich aus.
    „Was hast du gegen Liz Pacholek?“
    „Ist ´ne Cousine von mir“, gab sie zur Antwort, und als sie merkte,
dass das als Erklärung wohl nicht ausreichte, setzte sie hinzu: „Sie ist ein
ganz gemeines Biest. Sie war als Kind schon so. Und ich hab sie gehasst, das
kannst du mir glauben! Wenn sie früher bei uns zu Hause war, ist sie alle paar
Minuten zu den Erwachsenen gelaufen und hat sich beschwert. `Karin hat meine
Puppe. Karin hat meinen Teddy genommen.´ Karin hat dies, Karin hat jenes. Jedes
zweite Wort von ihr war Karin … Stimmt was nicht?“
    Chris starrte sie mit offenem Mund an. Seine Hand mit der Kaffeetasse
schwebte vor seinen Lippen. Sekundenlang. Dann setzte er die Tasse so hart auf
den Tisch, dass sie überschwappte.
    „Ich Rhinozeros!“, murmelte er und starrte immer noch Karin ins
Gesicht. „Ich Riesenrindvieh!“
    Er sprang auf und humpelte so schnell es die Naht an seinem Bein
zuließ, in das so selten genutzte Arbeitszimmer. Riss den Ordner mit den
Ermittlungsunterlagen aus dem Regal, und begann, fieberhaft zu blättern. Und
dann hatte er es. Schwarz auf weiß.
    Alles war plötzlich wieder da. Die Leuchtreklame der „Frielingsdorf
KG“, die durchnässte Gestalt darunter, der Schmollmund, die panischen Augen,
die wenigen Worte, die Inge Lautmann gesprochen hatte, die Betonung, die sie
auf diese Worte legte.
    Es war schmerzhaft, sich einzugestehen, dass ihm genau das passiert
war, was Tausenden von Zeugen weltweit tagtäglich passierte. Was der Alptraum
eines jeden Polzisten, Staatsanwalts oder Verteidigers war. Jeder Mensch nahm
Dinge und Geschehnisse anders wahr, und deshalb war eine Zeugenaussage niemals
objektiv. Für den einen war die Situation so bedrohlich, dass der Täter
automatisch zehn Zentimeter größer wurde als er in Wirklichkeit war, der
nächste empfand die Bedrohung als schwarz gekleidet, was in der Realität ein
helles Braun sein mochte.
    Hinzu kam, dass das menschliche Gedächtnis in jedes Erinnern andere
Erinnerungen mit einflocht, verwob, unentwirrbar. Da wurden zeitliche Abläufe
mit einem Mal länger oder kürzer, Tageszeiten wechselten. Gefühl und Verstand
wurden unbewusst zu einem logischen Bild zusammengesetzt, das zu früheren
Erfahrungen passte. Zu Gedächtnismustern, die einfach und klar waren und nicht
von der Norm abwichen. Im Extremfall wurde so eine Zeugenaussage vor Gericht,
Monate nach der Tat, beinahe das Gegenteil der ursprünglichen Angaben.
    Immer wieder hatte Chris festgestellt, dass es eine der schwierigsten
Aufgaben des Gerichts war, möglichst viel „Wahrheit“ aus diesem Muster
herauszufiltern. Er hatte Fachaufsätze und Bücher zu diesem Thema gelesen — und
sich selbst immer freigesprochen davon. Er, der äußerste Präzision gelernt
hatte, der Nebensätze auf die Goldwaage legen konnte, wenn es nötig erschien,
dessen Job die genaue Formulierung war!
    Und jetzt hatte auch er sich seine „Wahrheit“ gezimmert — und nie
wieder hinterfragt. Unbewusst hatte er Inge Lautmann sein eigenes Verhalten
unterstellt, wenn er dort geprügelt und gefoltert an der Hauswand gelehnt
hätte. Und sooft er sich auch durch Aussagen und Protokolle gewühlt hatte,
seine eigenen Worte hatte er immer überlesen. Er kannte sie ja, wozu also noch
mal nachschauen? Es war bitter, und die Tatsache, dass er intuitiv gewusst
hatte, dass irgendwo ein Haken war, linderte das nicht.
    „… mir jetzt endlich sagen, was in dich gefahren ist?“, drang die
Stimme von Karin an sein Ohr. Sie klang ungehalten, so, als hätte sie die Frage
schon mehrmals gestellt.
    Chris drehte sich langsam zu ihr um. Auf die Krücken gestützt, lehnte
sie am Türrahmen, schwankend zwischen Wut und Besorgnis. Der himmelblaue
Bademantel klaffte vorn auseinander und gab ihre schweren Brüste frei.
    Er ballte die Fäuste, holte tief Luft und erklärte mit heiserer
Stimme: „Sie hat nicht nach dir gerufen, Karin! Sie hat überhaupt nicht nach
dir

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