Fehlschuss
korrekt findest, Sprenger“, gab Susanne
mit zusammengekniffenen Augen zurück. „Ohne Essen kann ich nicht mehr denken!“
„Wie wär´s mit italienisch?“, warf Karin trocken ein. „Ihr müsst ja
nicht unbedingt toskanische Spezialitäten bestellen!“
Karin führte sie zu dem Italiener, den sie auch mit Achim und Klaus
vor zwei Wochen besucht hatte. Als Stammgast würden sie auch sonntags, ohne
Reservierung Plätze bekommen, versicherte sie.
Das kleine Lokal mit den grob verputzten Wänden und den schweren
dunklen Möbeln gefiel Chris ausnehmend gut. Mario, der Wirt, ein kleiner
rundlicher Mann mit blütenweißer Schürze, begrüßte Karin mit einer Verbeugung
und einem breiten Lachen. Dann führte er die drei zu einem ruhigen Ecktisch,
der sie vom übrigen Geschehen im Lokal weitgehend abschirmte.
„Wollt ihr meine Theorie?“, fragte Susanne eine halbe Stunde später.
Sie schwelgte in Saltimbocca und schien wieder guter Dinge.
Als sie keine Antwort erhielt, fuhr sie fort: „Also: Sie, Frau
Berndorf fotografieren aus Versehen eine Art geschäftlicher Besprechung, sagen
wir zwischen dem alten Viego und jemandem, den wir noch nicht kennen. Nach
Ihrer Beschreibung könnte er es durchaus sein. Nehmen wir an, er erkundigt sich
in San Filomento nach der Fotografin, hat Angst, in voller Lebensgröße auf
Zelluloid gebannt zu sein. Immerhin gilt er seit zehn Jahren als verschollen.
Dann beauftragt er seinen Neffen, den Beweis seiner Existenz zu vernichten.“
„Moment!“, unterbrach Karin. Ihre Gabel mit einem aufgespießten
Salatblatt schwebte in der Luft. „Was soll dann Inge dabei? Ich meine — Carlos
hätte nur der Fotografin das Licht auspusten und das Negativ suchen müssen,
mehr nicht.“
Chris stockte kurz der Atem, und er griff unwillkürlich nach ihrer
Hand. Der Fotografin das Licht auspusten! Dass in diesem Augenblick zwei
Polizisten vor dem Lokal standen, um ihn selbst zu schützen, hatte er völlig
vergessen.
„Inge hat irgendwie Wind davon bekommen, klaut die —wenn auch falschen
— Negative und versucht eine Erpressung“, schlug Susanne ungerührt vor und
schob sich ein weiteres Stück Kalbfleisch in den Mund.
„So war Inge nicht!“, antwortete Karin dumpf. Das Salatblatt rutschte
von der Gabel und klatschte auf den Teller zurück. „Außerdem kommt Tönnessen in
Ihrer Geschichte nicht vor.“
Ein ziemlich überzeugendes Argument, fand Chris im Stillen. Aber da
war noch etwas. Ganz nah.
„Lautmann und Tönnessen machen gemeinsame Sache“, bot Susanne als
nächste Theorie an. „He, Chris! Fällt dir gar nichts dazu ein?“
Doch. Ihm fiel eine ganze Menge ein. Er konnte es nur noch nicht
einordnen, fand keine Übersicht, kein System. Irgendwie war plötzlich alles
klar. Sicher: Es fehlten Details, die Reihenfolge war verwirrend, aber im
Prinzip stimmte es. Einzig und allein der Zufall war im Weg, an den er nicht
mehr glauben wollte.
Da war Larissa, die gesagt hatte, der Preis, den Inge für ein
sorgenfreies Leben zahlte, sei ihr erst in den letzten Monaten bewusst
geworden. Gertrud Schmitz, die Inges „Kapital“ aufbewahrte. Brigitte Tönnessen,
die für Geld über Leichen ging, und eine alte Kamera mit eingraviertem Namen.
Das in die richtige Reihenfolge gebracht …
„Ich muss an die Luft!“, sagte er nur und rannte hinaus.
Einer seiner Bewacher heftete sich sofort an seine Fersen, aber es war
ihm gleichgültig. Er lief ein Stück die Straße hinunter und bog dann in eine
schmale Gasse mit Kopfsteinpflaster ab. Hier war er aufgewachsen, kannte jeden
Hinterhof, jede Toreinfahrt, jeden der kleinen Läden, die es seltsamerweise
schafften, auch heute noch zu überleben. Der Scherenschleifer auf der Ecke, der
Trödler in seiner Holzbaracke, wo man früher alte Comic-Hefte für einen
Groschen bekam. Und auch der Alteisenhändler existierte noch, auf dessen Hof
man spielen durfte und dabei immer so herrlich ölverschmierte Hände bekam.
Im Schaufenster des Trödlers lagen vergilbte Bücher, mit einer dicken
Staubschicht bedeckt. Darüber hingen ein Ochsenjoch und mehrere verbeulte Petroleumlampen.
Chris blieb eine Weile vor dem Fenster stehen und versuchte, Ordnung in seinem
Kopf zu schaffen. Diese ganze Geschichte in Rubriken einzupassen, die ihm
bekannt waren. Die er nachvollziehen und verstehen konnte, die keine Zufälle
übrig ließen.
Aus der Kneipe gegenüber drang Gläserklirren und vielstimmiges
Gelächter. Das brachte ihn wieder in die Gegenwart zurück. Wie
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