Fehlschuss
Wer?“
„Zwei Wanderer. Männer. So was passiert tausendfach. Du drückst auf
den Auslöser, und in dem Moment latscht dir einer ins Bild. Der klassische
Fehlschuss sozusagen. Das ist zwar ärgerlich, aber nichts Ungewöhnliches. Und
wie gesagt, da oben war jede Menge los. Hier allerdings … Na ja, wir sind wohl
alle ziemlich erschrocken. Weißt du, ich hocke da hinter einem Felsen über
ihnen, und ich, ich hab sie auch nicht gehört oder gesehen, weil ich so auf die
Perspektive konzentriert war. Aber die beiden sahen derart verschreckt aus,
dass ich mich schließlich entschuldigt habe. Dabei waren sie doch mir ins Bild gelaufen! Ich hab´s erst auf Italienisch versucht, dann auf Deutsch,
zum Schluss noch auf Englisch. Aber die Typen haben mich nur angestarrt, als
hätte ich Hörner auf der Stirn. Dann fing der eine an, auf den anderen
einzureden, ziemlich wütend, hatte ich den Eindruck. Ich hab kein Wort
verstanden. Aber er ist sehr aufgeregt gewesen. Sie sind dann schnell
weitergegangen und haben sich noch mehrfach nach mir rumgedreht. Aber ich habe
dem kaum Beachtung geschenkt, weil ich auch wütend war. In der Zwischenzeit war
das fantastische Rot nämlich weg.“
„Hast du die beiden noch mal gesehen? Später vielleicht, im Ort?“
Karin schüttelte den Kopf und drückte die Zigarette in dem kleinen
gläsernen Aschenbecher aus, den sie aus dem Regal geangelt hatte.
„In welcher Sprache haben sie sich unterhalten?“
„Puh, keine Ahnung! Italienisch war´s jedenfalls nicht. Es könnte …“
Sie brach ab und biss sich auf die Lippen.
„Spanisch?“, hakte Chris nach.
„Ja, kann gut sein.“
„Viego?“
„Nein, sie waren beide älter. Um die sechzig würde ich sagen. Ich
könnte sie jetzt nicht genau beschreiben. Aber sie waren recht korpulent,
Halbglatze, teuer gekleidet. Keiner von denen hatte auch nur halbwegs
Ähnlichkeit mit diesem Carlos.“
Und auch nicht mit Geseke, setzte er im Stillen hinzu. Laut sagte er:
„Gut! Das Bild, Karin! Sind sie auf dem Bild?“
„Ich weiß nicht. Ich hab die Negative nur entwickelt und dann gleich
zum Verlag gegeben. Ich hatte keine Zeit, sie mir genauer anzusehen.“
Chris stand auf und ging zum Telefon in der Diele. „Okay. Wir brauchen
die Negative“, sagte er mehr zu sich selbst, als zu Karin. „Und dafür brauchen
wir Susanne.“
Im Büro war sie nicht, ebenso wenig zu Hause. Erst über ihr Handy
hatte er Glück, und er führte wahrscheinlich das kürzeste Telefonat seines
Lebens.
Als die Polizistin sich meldete, sagte er nur: „Wir haben´s.“
Und sie gab ebenso knapp zurück: „Ich komme.“
Karin hielt sich nicht so lange bei den Landschaftsbeschreibungen auf,
als sie ihre Geschichte gegenüber Susanne wiederholte. Alles andere aber gab
sie exakt so wieder, wie beim ersten Mal. Chris hörte genau zu, entdeckte
jedoch kein Detail, das dazugekommen oder weggefallen war.
Als Karin geendet hatte, kam Susanne zu dem selben Schluss wie Chris.
„Wir müssen an die Negative“, sagte sie. „Heute ist zwar Sonntag, aber wir können
nicht bis morgen warten. Frau Berndorf: Welcher Verlag, wer ist der zuständige
Mensch?“
„Kriegbaum & Kriegbaum. Mein Ansprechpartner da ist ein Herr
Meier. Ich glaube, Jens heißt der mit Vornamen.“
Susanne fummelte ihr Handy aus der Tasche und drückte hektisch darauf
herum. Aber es dauerte eine Weile, bis sie Hellwein aufgetrieben und ihm die
nötigen Instruktionen gegeben hatte. Er sollte nicht nur Jens Meier ausfindig
machen, sondern gleichzeitig die italienischen Kollegen um Amtshilfe bitten. Vielleicht
erinnerte sich ja ein Zimmermädchen oder der Portier aus Karins Hotel daran,
von einem Fremden über die Fotografin aus Deutschland ausgefragt worden zu
sein.
„Also, ihr beiden“, rief sie aufgeräumt, als sie das Gerät wieder
wegsteckte. „Hellwein kümmert sich um alles und treibt jemanden vom Verlag auf.
Bis es soweit ist, könntet ihr zwei vielleicht eine arme Beamtin zum Essen
ausführen. Ich falle um vor Hunger!“
Unwillkürlich sah Chris auf die Uhr. Über Toskana, Susanne und
Hellwein war es sieben Uhr abends geworden, und wenn er das Gefühl in seinem
Magen richtig interpretierte, war er ebenfalls hungrig. Wenn das auch beinahe
untergegangen war in dem Gefühl, dass sie endlich den Durchbruch hatten, dass
es weiterging.
„Zwei arme Freiberufler sollen eine Beamtin zum Essen einladen?“,
fragte er grinsend. „Findest du das korrekt?“
„Es ist mir scheißegal, was du
Weitere Kostenlose Bücher