Fehlschuss
hatte sie letzte Nacht gelegen, mehr tot als
lebendig. Geschlagen, geschunden, vielleicht sogar vergewaltigt und … Seine
Augen saugten sich an einem kleinen braunen Ledereinband fest, der auf dem
Beifahrersitz lag.
Hastig griff er danach. Ein durchweichter Taschenkalender, der
Ingeborg Lautmann aus der Jeans gefallen sein musste, als er sie in den Wagen
hob.
Vorsichtig blätterte er die klammen Seiten durch. Die Feuchtigkeit
hatte die Eintragungen etwas verwischt, das Schriftbild verbreitert. Trotzdem
war alles noch gut lesbar. Sie schien glücklicherweise keine Vorliebe für
Füllhalter gehabt zu haben.
An vielen Tagen waren Uhrzeiten und Kürzel eingetragen: „18 Uhr NK“,
„20 Uhr Flosse“, 16 Uhr 30 Bl“, Seite um Seite. In mehr oder weniger
regelmäßigen Abständen tauchten die Abkürzungen immer wieder auf. Dann, ab dem
20. April keine einzige Eintragung mehr. Einschließlich gestern nur noch leere
Blätter.
Hinten schloss sich ein Telefonregister an. Chris ließ die
vollgesogenen Seiten durch Daumen und Zeigefinger gleiten und redete sich gut
zu. Natürlich musste er den Kalender sofort nach dem Einkauf bei Susanne abgeben.
Dann aber blieb sein Blick an einem Namen im Register hängen. „Karin Berndorf“
stand da, eine Telefonnummer, eine Adresse im Südwesten der Stadt.
„Doktor Sprenger“, murmelte er, „Sie unterschlagen Beweismaterial!“
Aber da hatte er den Wagen schon gestartet und war losgefahren.
Lautmann hatte „Karin“ gesagt und nicht „Mutter“ oder Ähnliches.
Verlangte nicht jeder Mensch in einer solchen Situation nach einer ihm
nahestehenden Person? Oder hatte sie sagen wollen, dass diese Karin irgendwie
verwickelt war in die Geschichte? Wie auch immer, sie hatte offenbar eine
besondere Bedeutung gehabt. Und mit etwas Glück war Karin Berndorf diese Frau.
Sie wohnte in einem schmucken Altbau gegenüber dem Klettenbergpark.
Chris war erstaunt, wie sehr sich das Bild der Straße gewandelt hatte. Die
düsteren, tristen Häuser, die er noch aus seiner Kindheit kannte, waren mit
viel Liebe restauriert worden. Die Stuckumrandungen der Fenster stachen blau
von den schneeweißen Fassaden ab. Die kleinen Erker und die Ornamente über den
Haustüren waren in Gelb gehalten. In den Vorgärten blühten Tulpen und
Narzissen, und die grauen Waschbetonboxen, in denen die Müllcontainer standen,
waren dezent mit Efeu umwuchert. — Wer auch immer Karin Berndorf war, billig
wohnte sie jedenfalls nicht.
Als Chris aus dem Wagen stieg, roch er Frühling, aufbrechende Knospen
und von der Sonne erwärmte Erde. Es war ein wolkenloser, klarer Tag, und außer
ein paar abgebrochenen Ästen auf den Bürgersteigen deutete nichts darauf hin,
dass letzte Nacht Sturm und Regen gepeitscht hatten. Das aufgeregte Schnattern
von Enten drang an sein Ohr, Vögel, die um die Wette zwitscherten, Hundegebell
aus dem Talkessel des Parks. Vom nahe gelegenen Spielplatz ertönte eine wütende
Kinderstimme: „Ihr dürft noch nicht anfangen! Ich hab noch nicht gepfeift!“
Nun ja, eine Elfe war Karin Berndorf nicht gerade. Hochgewachsen, mit
runden, breiten Schultern, die auf irgendeine sportliche Betätigung schließen
ließen. Chris war sich mit seinen hundertachtundsiebzig Zentimetern immer als „normalgroß“
vorgekommen. Sie aber überragte ihn um ein gutes Stück. Die ausgeprägten,
lebendigen Gesichtszüge wurden umkringelt von widerspenstigen, blonden Locken.
Sie stützte sich mit dem rechten Arm im Türrahmen ab, der linke Daumen hing
lässig in einer Gürtelschlaufe ihrer Jeans. Kühl blickte sie Chris entgegen.
Aus übrigens erstaunlich blauen Augen. Ein lichtes Graublau, hellwach und
offen, mit feinem Spott im Hintergrund. Zwei feuchtglänzende Kiesel, an denen
Chris einen Moment lang hängenblieb, sich einfach nicht lösen konnte und
beinahe das „Bitte!?“ mit dem sie ihn empfing, überhörte.
Sie brauchte weder einen neuen Staubsauger, noch hatte sie Lust auf
die Zeugen Jehovas. Das machte dieses „Bitte!?“ überdeutlich.
„Ich … äh … mein Name ist Sprenger“, sagte er endlich. „Christian
Sprenger. Sie … Sie kennen Ingeborg Lautmann?“
Das Blau zog sich zu zwei schmalen Schlitzen zusammen, und das Gesicht
von Karin Berndorf lief unvermittelt rot an, ein ziemlich wütendes Purpur.
„Und?“, bellte sie. Ihre Distanz war jetzt unverhohlene
Feindseligkeit. Aber Chris bemühte sich um Gelassenheit. „Ich bin Anwalt und …“
„Sie sitzt also endgültig in der Tinte,
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