Fehlschuss
da auf ihn einzustürzen drohte, in eine
seiner so hilfreichen Schubladen. Es war jetzt nicht die Zeit, sich über Karins
Kindheit und Jugend Gedanken zu machen. Im Moment zählte nur die Gegenwart. Und
die zeigte ihm eine Frau, die sicherlich nicht einfach war, die aber ihre
Vergangenheit bewältigt hatte und mit der Gegenwart leben konnte. Trotzdem
klang seine Stimme irgendwie heiser, als er fragte: „Und was willst du damit
sagen?“
„Ich will damit nur sagen, dass wir es hier mit einer Frau zu tun
haben, die psychisch schwer gestört ist.“
„War“, korrigierte Chris mechanisch.
Über der linken Augenbraue von Susanne entstand ihre typische
Zornfalte. „Du bist hier nicht im Gericht, wo du dich in Spitzfindigkeiten ergehen
musst!“, antwortete sie heftig, lenkte dann aber ein. „Okay, von mir aus:
psychisch gestört war. Nichtsdestotrotz werden wir uns nochmal mit ihr
unterhalten müssen.“ Sie begann an den Fingern abzuzählen. „Ihre Vorgeschichte,
Lautmann beklaut sie, der Arloffer Wald, den Berndorf kennt, Lautmann ruft nach
ihr.“
„Karin kauft sich also irgendwo einen sadistischen Killer, setzt sich
daneben und guckt zu“, unterbrach er sie. „Du bist komplett meschugge!“
Es war kurz vor zehn, als Chris nach Hause kam. Zu spät, um nach
diesem Heinz Stockberger zu suchen, aber noch früh genug, um Karin anzurufen.
Der Anrufbeantworter raubte ihm den letzten Rest seiner Fassung. Eine
bis dahin mühsam aufrecht gehaltene Beherrschung, die mit diesem „Bitte
hinterlassen Sie eine Nachricht“ völlig den Bach runterging.
Er legte Mercedes Sosa auf — mit „Shuffle“ — und drehte etwas leiser,
weil er nicht sicher sein konnte, ob seinen Nachbarn um diese Uhrzeit noch nach
argentinischen Volksliedern war. Dann klemmte er sich die Whiskyflasche unter
den Arm und begann, im Wohnzimmer herumzuwandern, auf und ab, ab und auf, wie
ein Tier in einem zu engen Käfig. Es fehlten nur die Zoobesucher, die ihre
Nasen durch die Gitterstäbe drückten, um zu sehen, wie der Affe ab und zu einen
Schluck aus der Pulle nahm. Eine Banane müsste man dem Affen reichen, eine
Banane!
Wie ein offenes Buch lag Karin plötzlich vor ihm. Das traumatisierte,
verstümmelte Kind, dessen stumme Hilfeschreie die Großeltern wahrscheinlich
nicht verstanden hatten. Die Heranwachsende, die, während andere in ihrem Alter
die ersten sexuellen Erfahrungen machten, vielleicht schon von Heirat redeten,
zu Hause saß und sich ihres Körpers schämte. Deren letzter Hilfeschrei ein
Pflasterstein gewesen war.
Die erwachsene Frau, die nicht nur fürchtete, jemand könnte in ihre
Privatsphäre eindringen, sondern auch Angst davor hatte, dass man in ihrer
Geschichte wühlte. In ihrer eigenen, ganz persönlichen Geschichte, die, obwohl
längst verjährt und abgeschlossen, zu weiteren Befragungen und Neugier führen
würde. Natürlich musste ihr das klar gewesen sein — in dem Augenblick schon,
als Chris ihr von Inges Tod erzählte. Warum, zum Teufel, hatte sie nichts
gesagt? Genauso, wie sie weder die brennende Küche erwähnt hatte, noch den
Preis, den sie für ihre Balkan-Bilder bekommen hatte. Weil sie sich schämte?
Weil sie dachte, zu viel von sich preiszugeben, eben nicht wie ein offenes Buch
sein wollte? — Oder weil es nicht mehr wichtig war?
„Sie kriegen ´ne Kurzfassung, okay?“ Oh ja, die hatte er bekommen! Zum
Kotzen, einfach zum Kotzen!
Und was würde es ändern, wenn er es vorher gewusst hätte? Hätte er
weniger Herzklopfen? Hätte er irgendetwas tun können?
Es machte keinen Unterschied. Und trotzdem — dass er „nur“ die
Kurzfassung bekommen hatte, nagte an ihm, machte ihn wütend.
Zweifel hatte er keine. Der kleine Gnom in seinem Kopf schwieg. Der
Pflasterstein gehörte genauso zu Karin wie ihr Beinstumpf. Es war ein und
dieselbe Geschichte, das eine die unvermeidliche Folge des anderen. Und er war
sicher, dass Karin die ersten zehn Jahre ihres Lebens verarbeitet hatte. Sie
brauchte keine Pflastersteine mehr und erst recht keine sadistischen
Quälereien. Was Chris an den Rand der Raserei trieb und dazu, die gut
viertelvolle Flasche auszutrinken, war abermals seine Hilflosigkeit. Er konnte
dieser wunderbaren Frau nichts abnehmen, absolut nichts — weder ihren zehnten
Geburtstag, noch die Jahre davor oder danach. Und er konnte keine alten
Polizeiakten ausradieren oder den Namen Berndorf aus dem Gedächtnis von Susanne
streichen. Er hatte nicht einmal den Schimmer einer Idee, was Karin, Inge
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