Fehlt noch ein Baum
doch die zarte Damhirschkuh auf ihren geknickten Beinchen spricht zu ihrem Sprössling: Verschwinde, warum musstest du dich auch allein in den Schluchten herumtreiben.
Warum ich das erzähle? Gestern Abend überlieà ich Vera meiner Schwester und setzte mich an den Computer. Nach zehn Minuten hörte ich ein Geheul vonzwei Stimmen: meine Schwester und meine Tochter schluchzten. Ich rannte ins Nachbarzimmer. Wie sich herausstellte, hatte Vera meine Schwester in die Nase gebissen, als diese sie küssen wollte. Meine Tochter, der diese feuchten Küsse schon zuwider sind, hatte also die Nase meiner Schwester in den Mund genommen und kräftig mit ihrem zahnlosen Kiefer zugedrückt.
Meine Schwester konnte ihre Nase nur schwer entwinden und fing an zu weinen, womit sie das Kind erschreckte.
Als ich meine weinende Schwester mit roter Nase und die in das Geheul einstimmende Vera sah, musste ich lachen. Ich lachte so lange, bis mir die Tränen kamen.
Meine Schwester sprach dann den ganzen Abend nicht mehr mit mir, nach dem Motto: »Es ist dein Kind, also bist du schuld.« Und meine Mutter meinte dazu, dass ich eine sadistische Mutter sei, weil ich danebengestanden und gewiehert hatte, statt das Kind zu trösten.
Und nun denke ich, vielleicht bin ich gar kein Raubtier? Vielleicht bin ich eine Antilope?
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22. November 2003
Im Schatten junger Mädchenblüte
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Entgegen der Auffassung meiner Freunde sieht Vera ihrem Vater nicht ähnlich. Sie ist eine Kopie seiner Mutter, also meiner Fast-Schwiegermutter. Jetzt empfinde ich jedes Mal, wenn ich meiner Tochter die Pampers wechsle und sie wasche, ein recht schwieriges und vielschichtiges, breit gefächertes und widersprüchliches Spektrum an Gefühlen, die angemessen zu beschreibennur Menschen mit der Begabung eines Marcel Proust möglich wäre â¦
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23. November 2003
Von der Ewigkeit
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Meine Brüste werden immer kleiner. Bald werde ich sie mit der Lupe suchen müssen. Und wie sahen sie in den ersten Monaten aus, als die Milch nur so aus mir herausschoss â so groà wie Veras Kopf ⦠Es war die Sternstunde meines Busens.
So ist das immer â es gibt wenig Beständiges im Leben einer Frau: der Bauch ist weg, die Brust verschwindet. Allein der Arsch ist ewig.
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25. November 2003
Die Wahrnehmung der Welt
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Wenn Vera die Hände zusammenpresst, dann sehen ihre kleinen Fäuste aus wie zwei geschälte Mandarinen. Klein und abchasisch. Mit diesen Mandarinen schlägt sie auf alles ein, ganz wie Nikita Sergejewitsch Chruschtschow. Auf diese Weise nimmt meine Tochter die Welt taktil wahr.
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27. November 2003
Knirpse am Rande des Nervenzusammenbruchs
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Vera wurde von der Fresssucht befallen. Meine Freundin schreibt mir, das hänge mit dem schnellen Wachstum des Kindes zusammen. Tatsächlich ist sie in letzter Zeit sehr gewachsen, aber wie viel sie zu sich nimmt! Und wehe man wagt es, ihr etwas zu verweigern,dann wird es nur schlimmer ⦠Wenn sie gerade nicht isst, dann fühlt sie sich wahrscheinlich wie die Protagonistin eines Horrorfilms,
Knirpse am Rande des Nervenzusammenbruchs
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28. November 2003
Aus dem Leben der Kakerlaken
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Das Kakerlakenweibchen ist eine sehr verantwortungsvolle Mutter. Sie legt zwar Eier, schleppt dann aber ihre ungeschlüpften Kinder in einem speziellen Köfferchen mit sich herum, das an ihrem Bauch befestigt ist. Wahrscheinlich möchte sie, dass es menschlich zugeht. Wenn die Kleinen aus den Eiern schlüpfen, überlässt sie sie nicht ihrem Schicksal! Nein! Sie erzieht und bewacht ihre Nachkommenschaft in Gesellschaft anderer Kakerlakenmütter. Die Kakerlakenkinder laufen in einer kleinen Herde unter der Aufsicht ihrer groÃen braunen Mütter herum. Wie verantwortungsvoll die Kakerlaken doch mit ihren Kindern umgehen! Sie haben auch keine Waisenhäuser ⦠Deswegen sind sie unbesiegbar.
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30. November 2003
Neuschnee
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Nun ist auch der erste richtige Schnee gefallen. Weich und flockig. Bald wird alles weià sein wie
unschuldiges
Papier â das ist die beste Psychotherapie. ÃuÃerlich vereinfacht sich alles, und damit legen sich auch die inneren Stürme â¦
AuÃerdem ist Vera heute ein halbes Jahr geworden.
Erinnerungen an den fünften
Schwangerschaftsmonat.
Mutter, nimm mich wieder in dich auf
Nun wohnte ich also bei Olga, wie ich es verabredet hatte. Ich zog in das Zimmer ihres
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