Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fehlt noch ein Baum

Fehlt noch ein Baum

Titel: Fehlt noch ein Baum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irina Tabunowa
Vom Netzwerk:
dreißig, nicht mit vierzig.«
    Ich stimme ihr voll und ganz zu. Allerdings finde ich es unangemessen, mit vierzig das erste Kind zu bekommen. Da steht man bereits vor dem Dilemma, welchem Pensionsfonds man sein Rentenschicksal anvertrauen soll.
    Ich glaube, die Ärzte raten nicht deswegen ab, das erste Kind nach dreißig zu bekommen, weil die Wahrscheinlichkeit des Downsyndroms so hoch ist, sondern weil eine Schwangerschaft umso stärkere Auswirkungen auf die Psyche der Frau hat, je älter sie ist.
    Wenn eine Frau an die dreißig ist, fängt sie an, über die großen Fragen der Menschheit nachzudenken: »Bin ich in der Lage, eine Persönlichkeit zu erziehen?«, »Kann ich meinem Kind in moralischer und materieller Hinsicht genug geben?«, »Kann ich diese riesige Verantwortung tragen?«
    Je älter die schwangere Frau ist, desto subtiler und feiner nimmt sie ihre besondere Lage wahr. Sie fängt an, sich an irgendwelchen chinesischen Tabellen zu orientieren und sich die Wohnung mit Kügelchen im Stil von
Fengshui
oder weiß der Henker was vollzuhängen. Sich nach einer speziellen Fertilitätsdiät zu ernähren. Tonnen von Zeitschriften und Büchern zu kaufen. Sich im Internet auf Seiten für Mütter einzuloggen, in denen es um eine bewusste Elternschaft geht.
    Â»Ira, warum bist du so traurig?«
    Â»Mein Horoskop und das meines Kindes sind unvereinbar.«
    Â»Wenn das europäische Horoskop nicht passt, dann nimm doch ein anderes, das druidische zum Beispiel.«
    Â 
    Ãœberhaupt fängt eine Frau, die nach ihrem fünfundzwanzigsten Lebensjahr schwanger wird, plötzlich an, verbissen an sich herumzudoktern. Wobei eine Schwangerschaft ja keine Krankheit ist, das weiß sie sehr genau (weil sie es auf fünf verschiedenen Internet-seiten und in zehn Zeitschriften gelesen und außerdem bei den Schwangerschaftskursen in den Pausen zwischen den Atemübungen mitgeschrieben hat). Aber dieses Wissen hindert sie nicht daran, mehrmals am Tag eine Handvoll Tabletten zu schlucken.
    Â»Ira, was nimmst du da eigentlich ständig? Geh doch lieber frische Luft schnappen!«
    Â»Ich glaube nicht an frische Luft.«
    Â»Aber an Pillen glaubst du?«
    Â»Bewusst vertraue ich ihnen nicht, aber im Unterbewusstsein habe ich einen anachronistischen Glauben an ihre Wirkung.«
    Bildung schadet einer Frau beim Kinderkriegen. Meine Mutter war einmal beim Zahnarzt, wo ein junges Usbekenpärchen mit akuten Zahnschmerzen vorgelassen wurde.
    Â»Ira, sie konnte nicht mal Russisch, ihr Mann musste alles übersetzen. Sie hatte ein Kind an der Brust und war im achten Monat schwanger.«
    Â»Und was hat dich daran so aufgeregt?«
    Â»Wie kannst du das fragen? Was vermehren die sich überhaupt? Die sind doch arm, das sieht man gleich. Die denken überhaupt nicht an die Kinder …«
    Ob die usbekischen Emigranten an die Zukunft ihrer Kinder denken oder nicht, ist eine strittige Frage, aber dass diese Frau nicht einmal einen mittleren Schulabschluss hatte, kann ich mit einer Sicherheit von neunundneunzig Prozent behaupten. Und ihr erstes Kind hat sie weit vor ihrem fünfundzwanzigsten Lebensjahr zur Welt gebracht.
    Je mehr eine Nation hinterherhinkt bei der Eroberung des Weltalls, umso besser steht es bei ihr um den Nachwuchs. Und umgekehrt. Es liegt nicht an Lebensniveau und Existenzminimum, sondern an der Bildung, so komisch es klingen mag. Kaum bringt man einer Frau nicht nur Lesen und Schreiben bei, sondern auch logisch und stringent zu denken, kaum ist sie nicht nur mit dem Problem der Kohlsuppe zum Mittagessen beschäftigt, sondern auch mit der Frage »Sein oder Nichtsein?« – schon hört sie auf, Kinder zur Welt zu bringen.
    Bereits die Hebammen des neunzehnten Jahrhunderts hatten zu diesem Punkt amüsante Ansichten. Sie stellten die Theorie auf, dass Bildung tödlich für die Gebärmutter sei, da sie mit der Entwicklung des Gehirns der Frau verkümmere.
    Â»Also, dass das Gehirn verkümmert, Ira, stimmt hundertprozentig. Warum erzählst du es nicht deinen Eltern und hängst stattdessen bei deinen Freunden herum?«
    Â»Ich habe vor, es ihnen zu erzählen …«
    Â»In deinem tiefsten Inneren hoffst du immer noch, dass er dich anruft und zurückholt.«
    Â»Ich habe überhaupt keine Hoffnungen mehr.«
    Â»Doch. Du wartest darauf, dass dein Prinz auf einem weißen Wallach angaloppiert kommt und

Weitere Kostenlose Bücher