Fehltritt Im Siebengebirge
noch beschuhten Fuß und ruderte auf der Suche nach dem Gleichgewicht mit den Armen. Ihre Tasche sauste im hohen Bogen in einen Taubenpulk. Die Flüche über die frauenfeindliche Art der Platzbefestigung gingen in der Menge unter.
Vor dem Kaufhof hatten kahlgeschorene Demonstranten Plakate mit handgeschriebenem Text und Bilder aus fernen Welten aufgestellt. Sie boten gegen Unkostenbeteiligung Broschüren und Faltblätter an. Jede Not fand ihre Verkünder und manches Eigeninteresse seine Befriedigung. – Der Münsterplatz zeigte sein bewegtes und heiteres Alltagsgesicht.
Zwei oder drei Minuten waren es noch bis zum ultimativen Zeitpunkt. Marianne Richter sah den Fahrer eines Auslieferungswagens der Firma Erlenborn zu Fuß aus der Poststraße kommen. Er fuhr auch den Chef, wenn dieser nicht selbst am Steuer saß. Schmitz hieß er, wie so viele hier, und gehörte damit zum rheinischen Adel. Marianne Richter kannte ihn schon lange und hatte Vertrauen zu ihm. Er hielt, soweit sie es erkennen konnte, zwei Briefumschläge in der Hand: einen großen braunen und einen kleineren weißen.
Marianne ließ mit äußerster Konzentration noch einmal ihren Blick über den Münsterplatz gleiten. Kein anderes bekanntes Gesicht tauchte auf. Sie spürte, wie in der Anspannung ihr Kreislauf abgesackt war. Jetzt, durch die Aufregung, schoß ihr das Blut in den Kopf. Schmitz ging langsam auf das Beethoven-Denkmal zu und sah sich suchend um. Nachdem Marianne ihren Brief in die Jackentasche gesteckt hatte, hängte sie sich die Schultertasche über und eilte die Treppen hinab. Die Rechnung war bereits bezahlt, und sie verließ das Hotel mit schnellen Schritten.
Die Vielfalt der Stimmen und Geräusche traf ihr Ohr. Die ersten Touristen fotografierten den Schöpfer der Neunten auf seinem Sockel und das Bonner Münster. Von der Remigiusstraße her kam Blasmusik herüber – die Heilsarmee mit ihren Sammelbüchsen war unterwegs.
Fahrer Schmitz hob den Kopf und blickte suchend in Richtung Kaufhof. Als Marianne Richter ihm über seine Schulter hinweg »guten Morgen« wünschte, fuhr er erschreckt zusammen. »Ich habe Sie nicht bemerkt – Entschuldigung – guten Morgen«, stotterte er und sah sie bekümmert an. »Ein Wiedersehen auf diese Weise! Für uns waren Sie doch schon die künftige Chefin.«
Marianne winkte ab. »Der Junior hat nun mal andere Pläne.«
Schmitz schüttelte resigniert den Kopf und überreichte den weißen Briefumschlag. »Wenn das nur gutgeht mit der jungen Frau. Hier bitte, diesen Brief möchten Sie kurz lesen. Wenn Sie einverstanden sind, soll ich Ihnen auch den anderen Umschlag übergeben, ‘s ist ja alles etwas seltsam.«
»Hartmut… Herr Erlenborn und ich wollten uns nicht mehr begegnen, und alles sollte so schnell wie möglich abgewickelt werden«, erklärte sie und riß den Brief auf.
Briefkopf, Datum, Adresse, aber keine Anrede – dann der Text:
»Nach der einvernehmlichen Lösung des Arbeitsverhältnisses wird Ihnen zur Abgeltung aller arbeitsrechtlichen und privaten Ansprüche, wie auch für die Wahrung innerbetrieblicher Kenntnisse, eine einmalige Zahlung in Höhe eines vollen Jahresgehalts gewährt.
Der Betrag von 80000 DM vermindert sich um die Lohnsteuer, um den an die Sozialversicherung – wie besprochen – abzuführenden Beitragsanteil sowie um die Vorauszahlungszinsen. Wegen der von Ihnen geltend gemachten Dringlichkeit konnte eine genaue Abrechnung noch nicht erstellt werden. Daher erhalten Sie mit getrennter Post durch Boten eine Pauschalzahlung in Höhe von 60000 DM in bar.
Ein evtl. Ausgleich zu Ihren Gunsten erfolgt später. Auf die Rückforderung eines überbezahlten Betrages wird verzichtet.«
Stempel der Firma – gezeichnet Erlenborn – fast unleserlich.
Marianne Richter biß sich auf die Unterlippe und setzte an, den Brief zu zerreißen.
»Stimmt etwas nicht?« fragte Schmitz besorgt.
Marianne verhielt einen Moment. Sie durfte jetzt keinen Fehler begehen, auch wenn sie durch die Art und Weise der Abrechnung gedemütigt werden sollte.
»Schon gut – alles in Ordnung«, sagte sie und faltete den Brief zusammen. »Sie können mir den anderen Umschlag geben.« Da sie nicht wußte, ob Schmitz die Übergabe nur Zug um Zug vornehmen durfte, zog sie ihren Brief aus der Jackentasche. Schmitz gab ihr ohne zu zögern den braunen Umschlag, ließ aber die Hand ausgestreckt, um ihren Brief für seinen Chef entgegenzunehmen.
»Tut mir leid«, erklärte Marianne. »Ein Briefaustausch war
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