Feind in Sicht
sagte er: »Ich werde Sie jetzt rasieren, Käpt’n. Während ich warmes Wasser aus der Kombüse hole, könnten Sie mit dem Kaffee beginnen.« Er zögerte, bevor er hinzusetzte: »Sie hat ihn uns mitgegeben, als wir Plymouth verließen.«
Bevor Bolitho antworten konnte, eilte er aus der Kajüte.
Bolitho schwang die Füße an Deck und streckte die Hand aus, um sich festzuhalten, weil ihn Übelkeit überwältigte. Er war durstig und so müde, daß er fast in sich zusammengesackt wäre; aber Alldays letzte Worte veranlaßten ihn, zum Tisch hinüberzugehen.
Er mußte die Zähne zusammenbeißen, als er etwas Kaffee in den Becher goß. Seine Hand zitterte so stark, daß er erst beim zweiten Versuch Erfolg hatte. Dabei rann ihm der Schweiß den Rücken hinunter, als ob er gerade aus einem Alptraum erwacht wäre. Aber es war kein böser Traum, den man beiseite schieben konnte, weder jetzt noch jemals.
Er dachte an Alldays verzweifelte Versuche, ihn aus seiner Lethargie aufzurütteln, an die Blicke, die ihm zugeworfen worden waren, wenn er sich nachts an Deck gezeigt hatte. Einige Blicke waren voller Mitgefühl und Sympathie gewesen, als ob die Leute wie Allday seinen Schmerz mit ihm teilten. Andere hatten ihn nur neugierig und mit unverhohlener Überraschung beobachtet. Meinten sie, weil er ihr Kommandant war, sei er erhaben über jeden Kummer und privaten Schicksalsschlag? Stünde er über allen menschlichen Regungen, wie er über ihrer Welt stand?
Während der Nacht war er ruhelos auf dem Oberdeck herumgewandert, nur halb dessen bewußt, was er tat und wohin ihn seine Füße trugen. Vom nächtlichen Himmel und dem Gewebe der Takelage über sich hatte er etwas Ruhe zurückgewonnen, und während er ziellos über die verlassenen Decks streifte, hatte er das Schiff um sich herum wie ein lebendes Wesen gespürt, das durch seinen Kummer ebenfalls verstummt war. Danach war er in die leere Kajüte zurückgekehrt und hatte sich an das offene Fenster gesetzt, hatte den unverdünnten Brandy getrunken, ohne ihn zu schmecken, und hatte gewußt, daß auf dem Tisch ein Brief lag, den zu lesen er nicht den Mut hatte. Ihr letzter Brief. So voller Hoffnung und Zuversicht.
Allday trat in die Kajüte und legte das Rasierzeug auf den Tisch.
»Fertig, Käpt’n?« Er sah zu, wie Bolitho sich schwerfällig zu seinem Stuhl bewegte. »Der Kommandant der
Impulsive
wird in wenigen Augenblicken an Bord sein.«
Bolitho nickte und lehnte sich im Stuhl zurück. Seine totale Müdigkeit machte ihn wehrlos, als Allday ihm das Gesicht einseifte.
Füße trampelten über seinem Kopf, und er hörte das regelmäßige Rauschen von Wasser, als die tägliche Routine des Deckwaschens begann. Normalerweise hätte er zugehört und eine seltsame Beruhigung bei diesem vertrauten Geräusch empfunden, wenn er sich dazu die Gesichter der Leute vorstellte, die sich allerlei zuriefen, aber seinen Blicken verborgen blieben. Er fühlte, wie das Rasiermesser schnell über seine Wangen glitt und spürte, daß Allday ihn beobachtete. Alles war anders als bisher. Im schien, als ob die verschlossene Kajütentür ihn nicht nur vom Schiff, sondern von der ganzen übrigen Welt trennte.
Das Rasiermesser verhielt mitten in der Luft, und er hörte Inch vom Eingang rufen: »Kapitän Herrick ist an Bord gekommen, Sir. Die anderen Kommandanten werden bei acht Glasen erscheinen.«
Bolitho schluckte und schmeckte den Brandy wie Feuer auf seiner Zunge. Die anderen Kommandanten? Es bereitete ihm physische Anstrengung, sich zu erinnern: Herrick, der von seiner kurzen Besprechung mit dem Kommodore zurückgekommen war. Inch, zwischen Trauer und Anteilnahme hin- und hergerissen, und viele andere, die in dem allgemeinen Durcheinander seiner Gefühle wie Schemen aufgetaucht und verschwunden waren.
Inch fügte hinzu: »Sie kommen zur nächsten Sitzung, Sir.«
»Ja, danke. Bitte sagen Sie Kapitän Herrick, er möchte eine Tasse Kaffee trinken, während er warten muß.«
Die Tür schloß sich wieder, und er hörte Allday wütend murmeln: »Eine schöne Konferenz wird das werden!«
Er fragte: »Geht es dem Kommodore schon besser?«
Allday nickte. »Aye, Käpt’n. Petch kümmert sich um ihn. »Es gelang ihm nicht, die Bitterkeit in seinem Ton zu unterdrücken.
»Soll ich Kapitän Herrick fragen, ob er ihm alles erklären will?« Er wischte Bolithos Gesicht mit einem feuchten Handtuch ab. »Pardon, aber ich glaube, Sie sollten an dieser Konferenz nicht teilnehmen.«
Bolitho stand auf
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