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Feind

Feind

Titel: Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Corvus
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sicher fliegen ließ, als würde er von Dämonen ins
Ziel getragen. Dennoch fühlte Lióla in Limoras’ Nähe nichts von der Ehrfurcht,
die sie schon beim bloßen Gedanken an die Schattenherren durchdrang.
Vielleicht, weil die Fayé die Vergangenheit waren, die Osadroi aber die
Zukunft. Oder weil die Unsterblichkeit des Volkes der Wälder so zerbrechlich
war. Das Alter brauchten sie nicht zu fürchten, aber ein Stück gewöhnlicher
Stahl im Herzen tötete einen Fayé so gewiss wie einen Menschen.
    Während Lióla dem gebogenen Pfad den Hang entlang folgte, überlegte
sie, ob sie sich jemals so erhaben gefühlt hatte. Der Mord an Jatzell wirkte
noch nach. Was bewies die eigene Macht mehr, als jemandem seinen elementarsten
Besitz zu nehmen, das Leben? Lióla mochte als zierliche, junge Frau erscheinen,
beinahe als Mädchen, aber sie wusste, dass sie viel mehr war als das. Die
Ahnung von ihrer wahren Stärke war das Letzte gewesen, was den Weg in Jatzells
Verstand gefunden hatte.
    Die Schattenherren konnte Lióla natürlich nicht täuschen. Vielleicht
war es Lisanne selbst gewesen, die den Befehl gegeben hatte, Lióla im
anstehenden Ritual die Essenz der Kinder schöpfen zu lassen. War das ein
Hinweis darauf, dass die Schattenherzogin nicht nur wusste, was Lióla getan
hatte, sondern es auch guthieß und sie ermutigen wollte?
    Brünettas Anwesenheit wäre eigentlich nicht erforderlich gewesen,
aber Lióla hatte den Ghoul gern in ihrer Nähe. Er schmatzte zwar ab und zu,
belastete sie aber nicht mit dummem Gerede und war außerdem eine Erinnerung an
einen weiteren Triumph. Niemals hätte man die Priesterin Pnemaja zu einem jener
Dienste bringen können, die der Ghoul stoisch erledigte. Leider hatte Brünetta
heute ihr Kleid zerrissen. Ghoule waren einfach ungeschickt, was der Preis für
ihre beeindruckende Kraft sein mochte. So sah man die dunkle Haut des flachen
Bauchs durch den zerfetzten weißen Stoff. Brünetta selbst schien es nicht zu
bemerken, oder wenn sie es tat, störte es sie nicht. Auch jeder Sinn für
Ästhetik ging Ghoulen ab. So stand sie als Monstrum zwischen den
eingeschüchterten Kindern.
    Lióla würde die Essenz der Kleinen über ihre Furcht ernten. Im
Grunde war jedes Gefühl geeignet, aber Furcht war der sicherste und schnellste
Weg. Zwar verbrauchte sie sich mit der Zeit, weil die Opfer abstumpften, aber
das war heute unwichtig. Das Ritual würde in dieser Nacht abgeschlossen, und
die Oberen hatten deutlich gemacht, dass es danach kein Problem mehr wäre,
Guardaja zu nehmen.
    Das Heer stand auf den Hängen versammelt. Jede Hundertschaft hatte
ihr Feldzeichen, jede Tausendschaft ihr Banner. Manchmal übernahmen die Ondrier
die Wappen der gefallenen Dynastien, aber immer glichen sie die Farben an. Alle
Flaggen waren schwarz wie die Nacht, alle Symbole als graue Umrisse ausgeführt,
wie etwa die Rose Ondriens oder die Katze, die für Lisanne stand. Lióla
versuchte zu schätzen, wie viele Krieger auf den letzten Sturm warteten.
Fünfzigtausend? Sechzig? Manche Banner erkannte sie nicht, von so weit her
kamen sie.
    Baron Gadior war nicht unter den fünf Schattenherren, die mit
Lisanne auf der Balustrade des Palastes standen und über die Stadt im Tal auf
die Festung Guardaja starrten. Also wirkte er nicht an dem Ritual mit. War er
in Ungnade gefallen? Konnte das auch Lióla gefährden, die schließlich seine
Dienerin war? Oder war es im Gegenteil ein Vertrauensbeweis Lisannes?
Vielleicht führte er den Angriff, falls der Zauber sie selbst erschöpfte?
    Furchtsam warf Lióla einen Blick zu der Schattenherzogin hinauf. Der
Palast war zweihundert Schritt entfernt, nah genug, um die helle Haut der
Osadroi zu erkennen und auch auszumachen, welche von ihnen Lisanne war. Die
Elfenbeinkrone schimmerte im Sternenlicht, aber die drei Monde waren beinahe
vollständig verdunkelt. Die Distanz war groß genug, damit Lióla keinen Drang
verspürte, vor der Schattenherzogin auf die Knie zu fallen und die Stirn auf
den Boden zu drücken, aber einen kurzen Hymnus der Verehrung murmelte sie
dennoch.
    Lióla versuchte in den Konstellationen der Himmelslichter zu lesen,
warum Lisanne diese Stunde gewählt hatte. Lióla hätte eine weitere Nacht
gewartet, dann wäre Stygrons rotes Licht schwächer gewesen. Aber das war nur
die elementare Lehre der Magie. Das Studium der feineren Weisheiten, die in den
stärkenden und schwächenden Einflüssen der Sterne lagen, hatte Lióla gerade
erst begonnen. Irgendwo dort in der

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