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Feind

Feind

Titel: Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Corvus
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Dunkelheit des Himmels lag der Grund für
Lisannes Entscheidung.
    Aus einem fernen Teil Ondriens waren hingebungsvolle Gläubige
hierhergepilgert. Etwa einhundert hatten es bis ans Ziel geschafft, ihre Füße
waren nackt und blutig gelaufen. Sie standen auf der anderen Seite des Palasts.
Als sie ihren Choral anstimmten, scholl ihr Gesang nicht nur zu Lisanne empor,
sondern auch zu Lióla herüber.
    Lisanne hob die weißen Arme. Lióla konnte nicht erkennen, was genau
sie tat, aber das Ergebnis stellte sich sofort ein. Rauch stieg auf, und die
Erde bebte. Unter Liólas Füßen war es nur ein Zittern, aber im Tal brachen die
Mauern der Häuser. Donnernd stürzten Gebäude ein.
    Hinter den Osadroi auf dem Balkon schien ein silbriges Leuchten
durch die Palastfenster. Das musste die Essenz sein, die von den Kristallen
freigesetzt wurde. Rasch verdunkelte sie sich, als die Unsterblichen sie zu
sich riefen. Der Preis der Magie war immer Lebenskraft, entweder die eigene
oder fremde.
    Die Seelenspiegel stiegen aus den dunklen Winkeln auf, in denen sie
sich vor dem Tageslicht verborgen hatten. Ihr lautes Kreischen war so
unmenschlich, dass Lióla das Gefühl hatte, ihr würde das Mark aus den Knochen
gesogen. Sie sammelten sich zu einem Schwarm um den Balkon, wodurch sie die
Osadroi vor Liólas Blick verbargen.
    Sie wandte sich den Kindern zu, die sie furchtsam anstarrten. Einige
von ihnen schrien, als ein kräftiger Stoß die Erde erschütterte, andere weinten
stumm. Beides war Lióla recht. Sie hätte Brünetta eines von ihnen zerreißen
lassen oder sich der Folterwerkzeuge bedienen können, die sie zu diesem Zweck
mitgebracht hatte. Aber Ersteres wäre Verschwendung gewesen, und die Folter war
nicht um des Schmerzes selbst willen sinnvoll, sondern nur, um die Angst zu
fördern. Im Moment erschien ihr das unnötig. Die Furcht der Kinder war auch so
stark genug. Also schloss sie die Augen und konzentrierte sich auf die
Tätigkeit, die ihrem Rang innerhalb des Kults seinen Namen gab. Sie rief die
Dunkelheit.
    Lióla wusste nicht, wie ein Osadro die Essenz wahrnahm. Für
sterbliche Augen war sie ein silbrig glitzernder Schaum, für Liólas Sinne ein
Prickeln in den Handflächen, wenn sie diese der Quelle zuwandte, aus der die Lebenskraft
hervorkam. Es war vergleichbar mit einem Kamin, dessen Wärme man auf der
nackten Haut spüren konnte. Wie bei einem Feuer konnte man sich auch an der
Essenz verbrennen, das Empfinden konnte so stark werden, dass es schmerzte.
Heute wäre das Lióla gleich. Ihr einziger Wunsch war, den Schattenherren zu
dienen. Vor allem Lisanne.
    Sie intonierte die zauberischen Worte, mit denen sie die Essenz dazu
brachte, sich aus den kleinen Körpern vor ihr zu lösen. Da Liólas Augen noch
immer geschlossen waren, konnte sie das Glitzern nicht sehen, aber ihre anderen
Sinne verrieten ihr, dass es da sein musste. Sie griff danach, zog daran, indem
sie eine Verbindung zur Unnatur der Osadroi auf dem Balkon schuf, wie ein
Baumeister, der einen Kanal grub. In einem Kanal floss das Wasser beständig
abwärts, und die Lebenskraft zog hinauf zu den Osadroi. Unter anderen Umständen
wäre die Distanz von zweihundert Schritt zu weit gewesen, aber Lisanne hatte
ein magisches Gitter geschaffen, das noch über weit größere Entfernungen
reichte. Lióla zweifelte nicht daran, dass die finstere Kraft schon jetzt an
die Mauern Guardajas brandete. Kriegshörner riefen dort die Kämpfer auf die
Zinnen. Sogar vor den Befestigungen waren Fackeln zu sehen, was nur bedeuten
konnte, dass die Milirier einen größeren Ausfall unternahmen.
    Lióla achtete darauf, dass der Strom der Essenz gleichmäßig blieb.
Einige Kinder gaben sie sehr impulsiv ab, in heftigen Stößen, andere
kontinuierlich. Manche reagierten deutlich auf die Führung der Dunkelruferin,
andere kaum. Wenn sich ein Kind so stark erschöpfte, dass es zu sterben drohte,
nahm Lióla es für eine Weile aus dem Zauber. Zwei Mädchen schickte sie sogar in
eine Ohnmacht, damit sie sie später wecken konnte, als sie sich soweit erholt
hatten, dass sie wieder von Nutzen waren. Da war ihr junger Verstand allerdings
schon unwiderruflich geschädigt.
    Als sie erkannte, dass sie der gesamten Gruppe Ruhe verschaffen
musste, wenn nicht wenigstens die Hälfte ausfallen sollte, nahm sie den Ruf
zurück, schloss die Verbindung zu den Osadroi und öffnete die Augen.
    Hoffentlich hatten die Feldherren einen Weg geplant, der die Truppen
einigermaßen schnell zur feindlichen Festung

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