Feinde der Krone
dass alle Menschen nach den gleichen moralischen Vorstellungen und in einer ähnlichen Gefühlswelt leben wie Sie!«, erwiderte Narraway. »Das ist nun einmal nicht der Fall!« Er warf wütende Blicke auf den Fußweg vor sich. »Statt sich vorzustellen, was Sie in einer solchen Situation tun würden, sollten Sie lieber überlegen, was die anderen tun würden! Mit denen haben Sie es zu tun … und nicht mit hundert Spiegelbildern Ihrer selbst. Voisey hasst Sie mit einer Intensität, die Sie sich kaum vorstellen können. Aber glauben sollten Sie daran! Jeden Tag und jede Stunde Ihres Lebens daran denken … denn falls Sie das nicht tun, werden Sie eines Tages dafür bezahlen müssen.« Er blieb stehen und streckte die Hand aus, so dass Pitt ihn beinahe umgerannt hätte. »Und ich möchte Mary Anns Aussage haben. Die und der Untersuchungsbericht landen an einer Stelle, wo nicht einmal Voisey sie finden wird. Das muss er wissen, und er muss auch wissen, dass sie veröffentlicht werden, wenn Ihnen oder Ihren Angehörigen etwas zustößt. Das wäre für seine Schwester äußerst ungünstig und letzten Endes auch für ihn selbst, ganz gleich, ob sie bereit wäre, gegen ihn auszusagen oder nicht.«
Pitt zögerte nur kurz. Es ging um die Sicherheit seiner Angehörigen, und so gab er ihm Mary Anns Aussage. Wenn er Narraway nicht trauen konnte, blieb ihm ohnehin nichts.
Narraway dankte ihm mit spöttischem Lächeln. Ihm war klar, dass Pitt einen Augenblick lang an ihm gezweifelt hatte. »Ich kann gern beide Papiere fotografieren lassen und die Kopien an einer Stelle hinterlegen, wo Sie es möchten. Die Originale müssen dort bleiben, wo nicht einmal Voisey Zugriff auf sie hat, und es ist das Beste, wenn auch Sie nicht wissen, wo das ist. Glauben Sie mir, sie werden in Sicherheit sein.«
Pitt erwiderte das Lächeln. »Danke«, sagte er. »Ja, eine Fotografie von beiden wäre schön. Ich denke, das würde Cornwallis zu schätzen wissen.«
»Er soll sie haben«, sagte Narraway. »Jetzt fahren Sie zurück in die Stadt und kümmern sich um die Wahlergebnisse. Das
eine oder andre müsste inzwischen heraus sein. Ich denke, am besten gehen Sie zum Liberalen Klub. Dort gehen die Nachrichten ebenso früh ein wie anderswo auch, aber sie werden in elektrischer Laufschrift angezeigt, damit jeder sie sehen kann. Wenn ich nicht mit dem Gerichtsbeamten sprechen müsste, würde ich selbst hingehen.« Ein Anflug von Sorge legte sich auf sein Gesicht. »Ich nehme an, dass Voisey und Serracold weit dichter beieinander liegen, als uns recht sein kann, und ich mache keine Voraussage. Viel Glück, Pitt.« Noch bevor dieser antworten konnte, wandte Narraway sich ab und schritt rasch davon.
Erschöpft stand Pitt in der Menschenmenge auf dem Gehweg vor dem Liberalen Klub und sah hinauf zu der elektrischen Laufschrift, welche die letzten Wahlergebnisse anzeigte. Zwar lag ihm Jacks Abschneiden am Herzen, aber im Vordergrund seines Bewusstseins stand das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Voisey und Serracold. Noch war er nicht bereit, die letzte Hoffnung fahren zu lassen, dass die im Lande herrschende Stimmung für die Liberalen Serracold mittragen würde, so dass er den Sitz bekam, mit wie wenigen Stimmen Mehrheit auch immer.
Das Ergebnis, das jetzt angezeigt wurde, interessierte ihn nicht. Dabei ging es um einen sicheren Sitz der Konservativen irgendwo im Londoner Norden.
Zwei Männer standen einen oder zwei Schritt von ihm entfernt. »Haben Sie das gehört?«, fragte einer den anderen ungläubig. »Der Bursche ist doch tatsächlich drin! Sollte man das für möglich halten?«
»Was für ein Bursche?«, fragte der Angesprochene.
»Hardie natürlich!«, erwiderte der Erste. »Keir Hardie! Man stelle sich das nur mal vor: eine Arbeiter-Partei.«
»Sie meinen, er hat gewonnen?« Die Stimme des Fragenden überschlug sich fast vor Erstaunen.
»Wenn ich es Ihnen doch sage.«
Pitt lächelte vor sich hin, obwohl er nicht sicher war, was das für die Politik bedeuten würde oder ob es überhaupt von Bedeutung war. Er ließ die elektrische Anzeige nicht aus den
Augen, bis ihm aufging, dass es wohl sinnlos war. Zwar kamen die Ergebnisse herein, sobald sie feststanden, doch war es ohne weiteres möglich, dass Jacks Sitz oder der von Lambeth South längst angezeigt worden war. Er musste jemanden finden, der ihm das sagen konnte.
Er löste sich von der Gruppe und ging zum Portier. Er musste eine Weile warten, bis der Mann frei war.
»Ja, Sir?«, fragte
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