Feinde der Krone
Munde. Es waren durchaus gut zubereitete Speisen, lediglich ein wenig fade, und im Großen und Ganzen genau das, was es schon beim vorigen Mal gegeben hatte, als sie in diesem prächtigen Raum voller Spiegel mit den Anrichten aus der Zeit Louis XV. und den riesigen vergoldeten Kronleuchtern diniert hatte. Soweit sie sich erinnern konnte, waren auch fast ausnahmslos dieselben Menschen anwesend. Am Kopfende des Tisches saß ihr Gatte, der Bischof. Wie sie ihn so ansah, merkte sie, dass er verschwollene Augen hatte und bleich aussah, als hätte er schlecht geschlafen und zu viel gegessen. Er hatte seine Speisen fast noch nicht angerührt – das mochte daran liegen, dass er sich unwohl fühlte, ging aber wohl eher darauf zurück, dass er vor lauter Reden nicht zum Essen kam.
Er und der Erzdiakon priesen die Tugenden einer vor langer Zeit verstorbenen Heiligen, von der sie noch nie gehört hatte. Wie war es nur möglich, dass jemand in derart langweiligen Worten von wahrer Herzensgüte, gar Heiligkeit sprach, von der Überwindung der Furcht, der kleinen Eitelkeiten und Täuschungen des Alltagslebens, der Geistesgröße, die es einem Menschen erlaubte, über Kränkungen hinwegzusehen, von der Liebe zu allem Lebenden und seelischer Heiterkeit? Eine solche Haltung war doch einfach großartig!
»Hat sie je gelacht?«, fragte sie unvermittelt.
Um den ganzen Tisch herum trat Schweigen ein. Alle fünfzehn Anwesenden sahen sie an, als hätte sie ihr Weinglas umgestoßen oder ein ungehöriges Geräusch von sich gegeben.
»Nun, hat sie?«, ließ sie nicht locker.
»Sie war eine Heilige«, gab ihr die Gattin des Erzdiakons geduldig zu verstehen.
»Wie kann jemand heilig sein, wenn er keinen Humor hat?«, fragte Isadora.
»Das ist eine äußerst ernsthafte Angelegenheit«, erklärte der Erzdiakon und sah sie streng an. »Sie war Gott sehr nahe.«
»Man kann nicht Gott nahe sein, ohne seine Mitmenschen zu lieben«, sagte Isadora beharrlich und mit großen Augen. »Und wie könnte man andere Menschen lieben, wenn einem das Absurde an bestimmten Dingen und Situationen nicht bewusst ist?«
Der Erzdiakon zwinkerte. »Ich verstehe nicht, was Sie damit sagen wollen.« Er war breitschultrig und hatte ein schweinchenrosa Gesicht. Sie sah auf seine kleinen braunen Augen und seinen Mund, dem nie ein unbedachtes Wort zu entschlüpfen schien. »Nein«, stimmte sie zu, fest überzeugt, dass er überhaupt nur wenig verstand. Allerdings war er ihrer eigenen Einschätzung nach vom Stand eines Heiligen weit entfernt. Sie konnte sich unmöglich vorstellen, wie jemand, und sei es ein Heiliger, den Erzdiakon lieben konnte. Flüchtig überlegte sie, was seine Frau wohl empfinden mochte. Warum hatte sie ihn geheiratet? Aus Zweckmäßigkeit, wenn nicht gar aus Verzweiflung? Oder war er damals ein anderer Mensch gewesen?
Die arme Frau.
Isadora sah zu ihrem Mann hin. Sie versuchte, sich zu erinnern, warum sie ihn geheiratet hatte und ob sie beide wirklich vor dreißig Jahren so anders gewesen waren. Sie hatte Kinder gewollt, die aber waren ihr versagt geblieben. In jungen Jahren war er ein aufrichtiger Mann gewesen, vor dem eine viel versprechende Zukunft lag, und er hatte sie höflich und achtungsvoll behandelt. Was aber hatte sie in ihm zu sehen geglaubt, in seinem Gesicht und seinen Händen, was sie veranlasst hatte, ihm zu gestatten, dass er sie berührte? Was an
seinen Worten hatte sie dazu gebracht, ihm für den Rest ihres Lebens zuzuhören? Wie waren seine Träume beschaffen gewesen, dass sie sie hatte teilen wollen?
Sofern ihr das je klar gewesen war, hatte sie es vergessen.
Jetzt wandte sich das Gespräch der Politik zu. Endlos wurden die Stärken der einen und die Schwächen der anderen diskutiert und über die Frage gesprochen, warum es den Anfang vom Ende des Weltreiches bedeuten würde, wenn man den Iren Selbstbestimmung gewährte, und dass damit das Ende aller missionarischen Bemühungen gekommen sei, der übrigen Welt das Licht der christlichen Tugenden zu bringen.
Sie sah sich im Kreise der Anwesenden um und fragte sich, wie viele der Frauen tatsächlich zuhören mochten. Sie alle waren so gekleidet, wie es die Mode verlangte und es sich für eine festliche Abendeinladung gehörte: eng geschnürt, hoch geschlossen, Kleider mit Puffärmeln. Vermutlich betrachtete so manche von ihnen lieber das weißleinene Tischtuch, die Teller, die Gewürzständer, die peinlich genau arrangierten Gestecke von Blumen aus dem Gewächshaus und
Weitere Kostenlose Bücher