Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Feinde der Krone

Feinde der Krone

Titel: Feinde der Krone Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
stellte sich dabei vor, wie der Mond auf die Meeresbrandung schien, wie die aufrührerische See mit weißen Schaumkronen herbeistürmte und sich mit endlosem Donner am Ufer brach. Vielleicht auch dachten sie an den blassen Sand einer glutheißen Wüste, in der sich Reiter mit Gewändern, die sich im Wind blähten, als schwarze Umrisse vor dem Horizont abzeichneten.
    Die Teller wurden gewechselt, ein neuer Gang wurde aufgetragen. Sie sah nicht einmal hin, wollte nicht wissen, was es war.
    Einen wie großen Teil ihres Lebens hatte sie damit zugebracht, von anderen Orten zu träumen, zu wünschen, sie wäre dort?
    Der Bischof hatte den Gang vorübergehen lassen. Vermutlich litt er wieder an Verdauungsstörungen. Allerdings hinderte ihn das nicht daran, die Schwächen des Mannes hervorzuheben, der in South Lambeth für die Liberalen kandidierte, vor allem seinen Mangel an Religiosität. Die Frau dieses Mannes schien seinen besonderen Zorn hervorgerufen zu haben,
obwohl er offen einräumte, dass er sie seines Wissens nie gesehen hatte. Wohl aber hatte er gehört, sie sei voller Bewunderung für einige der sonderbaren Sozialisten, die sich selbst als Bloomsbury-Gruppe bezeichneten und radikale, wenn nicht widersinnige, Vorstellungen von Reform hatten. So etwas war unverzeihlich.
    »Gehört nicht auch Sidney Webb dazu?«, fragte der Erzdiakon mit einem Anflug von Abscheu in der Stimme.
    »In der Tat, wenn er nicht gar der Anführer ist«, sagte ein anderer, dessen Schultern ein wenig herabhingen. »Er hat diese armen Frauen ermuntert zu streiken.«
    »Und so etwas bewundert der Kandidat für South Lambeth?« , fragte die Frau des Erzdiakons ungläubig. »Damit öffnet er doch der Unruhe in der Gesellschaft und dem völligen Chaos Tür und Tor! Das kann nur in die Katastrophe führen.«
    »Soweit ich weiß, hat Mistress Serracold diese Ansicht vertreten«, berichtigte der Bischof. »Doch hätte ihr Gatte das nie zugelassen, wenn er ein Mann von Charakter wäre und Urteilskraft besäße.«
    »So ist es.« Der Erzdiakon nickte nachdenklich.
    Diese Worte und der Anblick der Gesichter ließen Isadora innerlich Partei für Mrs. Serracold ergreifen, obwohl auch sie ihr noch nie begegnet war. Wenn sie das Stimmrecht besäße, würde sie den Mann wählen, der da in South Lambeth kandidierte. Eine solche Entscheidung wäre keineswegs läppischer als die der meisten Männer bei ihrer Wahl, die gewöhnlich so stimmten, wie sie es bei ihren Vätern gesehen hatten.
    Jetzt sprach der Bischof salbungsvoll über die Heiligkeit der Rolle der Frau als Hüterin des Hauses und Wahrerin dieses Hortes des Friedens und der Unschuld. Dorthin konnten sich die Männer nach den Kämpfen in der Welt zurückziehen, dort konnten sie die Wunden heilen, die ihre Seelen davongetragen hatten, und ihren Geist erquicken, so dass sie die Kraft hatten, sich am nächsten Morgen erneut in die Schlacht zu stürzen.
    »Du beschreibst uns, als wären wir eine Mischung aus einem heißen Bad und einem Glas warmer Milch«, sagte Isadora, als ein kurzes Schweigen eintrat, weil der Erzdiakon Luft holte, um auf die Worte des Bischofs zu antworten.
    Dieser sah sie an. »Glänzend formuliert, meine Liebe«, sagte er. »Reinigend und erfrischend, eine Wohltat für den inneren wie den äußeren Menschen.«
    Wie konnte er sie nur so missverstehen? Er kannte sie seit über einem Vierteljahrhundert, und da glaubte er, dass sie seiner Meinung sei? War er für Sarkasmus gänzlich unempfänglich? Oder wandte er, was sie gesagt hatte, geschickt gegen sie und entwaffnete sie damit, dass er so tat, als nehme er es wörtlich?
    Sie suchte über den Tisch hinweg seine Augen und hoffte fast, dass er über sie spottete. Zumindest wäre das eine Art Verständigung. Aber das war nicht der Fall. Er erwiderte ihren Blick ausdruckslos und wandte sich dann der Gattin des Erzdiakons zu, um sich ihr gegenüber in Erinnerungen an seine selige Mutter zu verbreiten, die allerdings nicht die blasse Gestalt gewesen war, als die er sie hinstellte, sondern, wie Isadora genau wusste, ein Mensch mit durchaus eigenem Charakter.
    So viele Menschen, die sie kannte, sahen ihre Eltern mit anderen Augen als die übrige Welt, als reinste Klischees von Mutter und Vater, die entweder gut oder schlecht waren. War es möglich, dass auch sie ihre Eltern nicht besonders gut gekannt hatte?
    Die Damen am Tisch sagten kaum etwas. Sie sahen sich außerstande, an den Gesprächen der Herren teilzunehmen, und es galt als

Weitere Kostenlose Bücher