Feinde der Krone
sich hatte.
Was wollte eine kultivierte Frau wie Rose Serracold dort? War sie gekommen, um Stimmen zu hören und Erscheinungen zu sehen? Auf welche Fragen suchte sie Antworten? Bestand eine Beziehung zwischen ihrer Anwesenheit und der Roland Kingsleys? Vermutlich.
Er spürte Tellmans Gegenwart, wandte sich um und sah ihn an der Tür stehen. Auf dem Gesicht des Inspektors lag ein fragender Ausdruck.
Pitt hielt ihm das Heft hin, Tellman sah darauf und hob den Blick wieder. »Was bedeutet das?«, fragte er, auf die Kartusche weisend.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, sagte Pitt. »Offenbar legt jemand so großen Wert darauf, anonym zu bleiben, dass Maude Lamont seinen Namen nicht einmal in ihrem eigenen Tagebuch vermerken wollte.«
»Vielleicht wusste sie ihn nicht?«, fragte Tellman. Er holte tief Luft. »Womöglich wurde sie umgebracht, weil sie dahinter gekommen war.«
»Und versucht hat, ihn zu erpressen? Womit?«
»Mit dem, was ihn veranlasst hat, seine Besuche bei ihr geheim zu halten«, gab Tellman zurück. »Möglicherweise war er gar nicht einer ihrer Besucher, sondern ihr Liebhaber. Das wäre doch ein Motiv.« Er verzog den Mund. »Da könnte doch auch der Grund für das Interesse des Sicherheitsdienstes liegen. Wahrscheinlich steckt irgendein Politiker dahinter, der es sich nicht leisten kann, zur Zeit des Wahlkampfs bei einer Affäre ertappt zu werden.« Sein Blick war herausfordernd. Er ärgerte sich sichtlich, gegen seinen Willen in den Fall verwickelt zu werden, ohne dass man ihm etwas sagte, benutzt zu werden, ohne zu wissen, worum es ging.
Pitt hatte darauf gewartet, dass er zeigte, wie gekränkt er war. Er spürte den Stich, und dennoch empfand er es fast als Erleichterung, dass die Sache endlich herauskam.
»Möglich wäre es, aber ich glaube es nicht«, sagte er offen
heraus. »Zumindest weiß ich nichts darüber. Ich kann mir nicht im Entferntesten vorstellen, warum sich der Sicherheitsdienst mit dem Fall beschäftigt, und soweit mir bekannt ist, habe ich mich ausschließlich für Mrs. Serracold zu interessieren. Sollte sich zeigen, dass sie Maude Lamont getötet hat, werde ich dafür sorgen, dass sie zur Rechenschaft gezogen wird, wie ich das bei jedem anderen Menschen auch tun würde.«
Tellman entspannte sich etwas, bemühte sich aber nach Kräften, das vor Pitt zu verbergen. Er straffte die Schultern ein wenig. »Wovor sollen wir Mrs. Serracold denn schützen?« Sofern ihm bewusst war, dass er sich bei dieser Frage mit eingeschlossen hatte, gab er es nicht zu erkennen.
»Vor politischen Machenschaften«, erwiderte Pitt. »Ihr Mann bewirbt sich um einen Unterhaussitz. Es ist denkbar, dass ihn sein Gegenspieler mit Hilfe korrupter oder gesetzeswidriger Mittel in Verruf bringen möchte.«
»Sie meinen über seine Frau?« Tellman sah ihn verwirrt an. »Handelt es sich bei der Sache etwa um einen … politischen Hinterhalt?«
»Wahrscheinlich nicht. Vermutlich hat es gar nichts mit ihr zu tun, und sie taucht nur zufällig im Zusammenhang mit diesem Fall auf.«
Tellman glaubte ihm nicht und zeigte das deutlich. Wenn er ehrlich war, glaubte Pitt selbst nicht, was er gesagt hatte. Er hatte Voiseys Macht so ungemindert zu spüren bekommen, dass er keinen Grund sah, etwas für einen Zufall zu halten, was diesem Menschen zu einem Vorteil verhalf.
»Wie ist diese Mrs. Serracold?«, erkundigte sich Tellman mit einer leichten Furche zwischen den Brauen.
»Ich weiß es nicht«, gab Pitt zu. »Ich bin gerade dabei, etwas über ihren Mann in Erfahrung zu bringen, und was noch wichtiger ist, über seinen politischen Gegner. Als zweiter Sohn einer alten Familie ist Serracold ausgesprochen wohlhabend. Er hat in Cambridge Kunst und Geschichte studiert und ist viel gereist. Er ist ein Verfechter von Reformen, gehört der Liberalen Partei an und kandidiert in South Lambeth.«
Auf Tellmans Gesicht war abzulesen, was er empfand, und sicher hätte es ihn geärgert, wenn ihm das bewusst gewesen
wäre. »Er ist privilegiert, reich, hat sein Leben lang nicht gearbeitet und möchte jetzt gern an der Regierung teilhaben, um uns anderen zu sagen, was wir tun sollen und wie. Oder vermutlich, um uns zu sagen, was wir nicht tun sollen«, schimpfte er.
Pitt unterließ es, darauf einzugehen. Von seinem Standpunkt aus hatte Tellman den Nagel ziemlich genau auf den Kopf getroffen. »Mehr oder weniger«, räumte er ein.
Tellman stieß langsam den Atem aus. Da ihm das Wortgefecht, das er sich erhofft hatte,
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