Feinde der Krone
Händen spürte. Die Stimmen um sie herum schwollen an und nahmen ab. Niemand merkte, dass sie schon eine ganze Weile stumm geblieben war und nicht einmal von Zeit zu Zeit höflich zugestimmt hatte.
Auch wenn die Vorstellung, zu Cornwallis zu gehen, ein Tagtraum war, den sie nie und nimmer verwirklichen würde, war
ihr mit einem Mal die Frage ungeheuer wichtig, ob er sie hätte haben wollen, wenn das möglich gewesen wäre, ob es auf irgendeine Art und Weise eine reale Möglichkeit gegeben hätte. Nichts anderes war auch nur annähernd so wichtig. Sie musste ihn wiedersehen, einfach mit ihm reden, und sei es über nichts Bestimmtes. Sie musste unbedingt wissen, ob ihm nach wie vor an ihr lag. Sagen würde er das nicht, das hatte er nie getan. Es war gut möglich, dass sie von ihm nie die Worte »ich liebe dich« hören würde, dass sie sich mit Stillschweigen begnügen musste, mit Betretenheit, dem Blick seiner Augen und seinem plötzlichen Erröten.
Wo konnten sie einander treffen, ohne dass man sich darüber ereiferte? Es musste ein Ort sein, den beide gewöhnlich aufsuchten, damit es zufällig aussah. Vielleicht eine Kunstausstellung oder dergleichen. Sie wusste nicht, welche Ausstellungen es gerade gab, hatte bisher noch nicht das Bedürfnis gehabt nachzusehen. In der Nationalgalerie gab es immer etwas. Sie würde ihm eine beiläufig formulierte kurze Mitteilung schicken, in der sie ihn einlud, mit ihr anzusehen, was auch immer es war. Gleich am nächsten Morgen. Sie könnte darauf hinweisen, dass es sich um eine interessante Ausstellung handelte, und fragen, ob er sie auch gern sehen würde. Sofern es sich um Seestücke handelte, war kein Vorwand nötig; wenn es etwas anderes war, spielte es nicht unbedingt eine Rolle, ob er ihr glaubte oder nicht. Entscheidend war, dass er kam. Es war zuchtlos, genau das zu tun, wogegen der Erzdiakon vom Leder gezogen hatte, aber was hatte sie zu verlieren? Was besaß sie schon außer diesem inhaltsleeren Spiel, den Worten, in denen sich niemand mitteilte, Nähe ohne Vertrautheit, Leidenschaft, Gelächter oder Zärtlichkeit?
Sie war entschlossen. Mit einem Mal empfand sie einen Hunger, den die vor ihr stehende Karamelcreme nicht zu stillen vermochte. Sie hätte die vorigen Gänge nicht vorübergehen lassen sollen. Jetzt war es zu spät.
In der Nationalgalerie wurden Hogarth-Zeichnungen gezeigt – Porträts, nicht seine politischen Karikaturen und Kommentare zu Tagesereignissen. Während ihn die Kritiker zu seinen
Lebzeiten vor gut hundert Jahren als kläglichen Schmierer abgetan hatten, war sein Ansehen inzwischen beträchtlich gestiegen. Der Hinweis, dass es sich lohnen könnte festzustellen, ob die Kritiker Unrecht gehabt hatten oder nicht, würde ihr nicht schwerfallen.
Sie schrieb rasch, um nicht Opfer ihrer eigenen Befangenheit zu werden und den Mut zu verlieren.
Lieber Kapitän Cornwallis, mir ist heute Morgen aufgefallen, dass in der Nationalgalerie die Porträts von Hogarth gezeigt werden, die zu seinen Lebzeiten der Gegenstand von viel Spott waren, aber mittlerweile deutlich günstiger beurteilt werden. Es ist bemerkenswert, zwischen welchen Polen die Meinungen zu einer einzigen Begabung schwanken können. Ich würde mir die Bilder gern selbst ansehen und mir ein eigenes Urteil bilden.
Da mir nicht nur Ihr Interesse an der Kunst, sondern auch Ihre eigene Fähigkeit auf diesem Gebiet bekannt ist, nehme ich an, dass auch Sie sich gern selbst eine Ansicht über diesen Künstler bilden wollen.
Mir ist bewusst, dass Sie für derlei Dinge nur wenig Zeit haben, doch hoffe ich, dass Sie sich trotz Ihrer Pflichten etwa eine halbe Stunde freinehmen können, und so hielt ich es für angebracht, Sie von dieser Ausstellung in Kenntnis zu setzen. Ich habe mir vorgenommen, ihr mindestens eine halbe Stunde zu widmen, vielleicht gegen Ende des heutigen Nachmittags, wenn meine Anwesenheit im Hause nicht erforderlich ist. Meine Neugier ist geweckt: Ist Hogarth so schlecht, wie man ursprünglich gesagt hat, oder so gut, wie man ihn jetzt einschätzt?
Ich hoffe, ich habe Ihre Zeit nicht unnötig in Anspruch genommen.
Aufrichtig Ihre
Isadora Underhill
Ganz gleich, wie oft sie den Brief überarbeitete, er würde jedes Mal schwerfälliger werden, als sie es gern gehabt hätte.
Sie musste ihn aufgeben, bevor sie ihn erneut durchlas und der Mut sie verließ, ihn abzuschicken.
Rasch brachte sie ihn zum Briefkasten an der Straßenecke; jetzt konnte sie ihn nicht mehr
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