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Feinde der Krone

Feinde der Krone

Titel: Feinde der Krone Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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verloren gegangen!
    Dann sah sie ihn. Er war also doch gekommen! Sie hätte ihn an seiner Körperhaltung überall erkannt. Im nächsten Augenblick würde er sich umwenden und sie sehen, und sie würde auf ihn zugehen müssen. Jetzt galt es, das heftige Schlagen ihres Herzens zu beherrschen. Sie hoffte zu Gott, dass ihr Gesichtsausdruck sie nicht verriet, und überlegte rasch, was sie sagen konnte, damit sich möglichst bald ein Gespräch entwickelte, ohne dass sie zu eifrig wirkte, denn das würde sie linkisch erscheinen lassen und ihn abstoßen.
    Er drehte sich um, als habe er ihren Blick gespürt. Sie sah, wie seine Augen vor Freude aufleuchteten und er sich rasch bemühte, es zu verbergen. Um es ihm nicht unnötig schwer zu machen, vergaß sie ihr Vorhaben und trat auf ihn zu.
    »Guten Tag, Kapitän Cornwallis. Ich bin entzückt, dass Sie die Zeit erübrigen konnten, sich die Ausstellung selbst anzusehen.« Sie wies auf eins der größten Gemälde. Es trug den Titel Hogarths Dienstboten und zeigte sechs Köpfe, die dem Betrachter von der Leinwand herunter über die linke Schulter sahen. »Ich denke, die Leute haben sich geirrt«, sagte sie entschlossen. »Das sind wirkliche Menschen, und sie sind glänzend gezeichnet. Sehen Sie doch nur, wie besorgt der Ärmste in der Mitte dreinschaut und wie gelassen die Frau links von ihm ist.«
    »Den obersten könnte man für ein halbes Kind halten«, sagte er, doch kaum hatte er einen Blick auf das Bild geworfen, als seine Augen schon zu ihrem Gesicht wanderten und es aufmerksam betrachteten. »Ich freue mich, dass wir einander hier begegnet sind«, sagte er und zögerte dann, als wäre diese Äußerung zu beiläufig gewesen. »Es … es ist lange her … jedenfalls kommt es mir so vor. Wie geht es Ihnen?«
    Unmöglich konnte sie ihm die Wahrheit anvertrauen, so sehr sie sich danach sehnte, ihm zu sagen: »Ich bin so einsam, dass ich mich in Tagträume flüchte. Ich habe gemerkt, dass mich mein Mann nicht nur langweilt, sondern ich ihn buchstäblich verabscheue.« Also sagte sie das Übliche: »Sehr gut, vielen Dank. Und Ihnen?« Sie nahm den Blick vom Bild und sah ihn an.
    Seine Wangen waren kaum wahrnehmbar gerötet. »Oh, sehr gut«, antwortete er und wandte sich ab. Er tat einen oder zwei Schritte nach rechts und blieb vor dem nächsten Bild stehen. Es war ebenfalls ein Porträt, aber das eines einzelnen Menschen. »Es war wohl die Mode«, sagte er nachdenklich. »Ein Kritiker hat dem anderen nachgeplappert. Wie könnte ein unvoreingenommener Mensch das als unzulänglich ansehen? Das Gesicht lebt doch und trägt unverwechselbare Züge. Was kann man von einem Porträt mehr verlangen?«
    »Ich weiß nicht«, ewiderte sie. »Vielleicht wollten die Leute, dass es etwas aussagte, was sie gern gesehen hätten. Manche Menschen sind lediglich bereit, sich anzuhören, was ihre eigene Meinung stützt.« Bei diesen Worten dachte sie an den Bischof und die endlosen Abende, an denen sie hatte mit anhören müssen, wie Männer Gedanken verwarfen, ohne sich näher mit ihnen zu beschäftigen. Möglicherweise waren sie nicht gut, aber auch das Gegenteil war ohne weiteres möglich. Wer sich nicht gründlich mit ihnen auseinandersetzte, würde das nie wissen. »Es ist so viel einfacher zu tadeln als zu loben«, sagte sie.
    Er sah sie rasch an. Seine Augen waren voller Fragen, aber er stellte sie nicht. Natürlich nicht. So etwas war ungehörig und aufdringlich.
    Auf keinen Fall durfte sie zulassen, dass das Gespräch versandete. Sie war hergekommen, um ihn zu sehen und festzustellen, ob sich seine Gefühle ihr gegenüber nicht geändert hatten. Sie konnte nahezu mit Sicherheit nichts tun, musste aber unbedingt wissen, ob er sich ebenso nach ihr sehnte wie sie sich nach ihm.
    »In Gesichtern liegt so vieles, finden Sie nicht auch?«, sagte sie, als sie auf ein weiteres Porträt zugingen. »Dinge, die man
nicht aussprechen kann, die aber gleichwohl da sind, wenn man nach ihnen sucht.«
    »Da haben Sie Recht.« Er senkte den Blick zu Boden und hob dann die Augen wieder zu dem Bild empor. »Wenn man etwas erlebt hat, erkennt man es in anderen wieder. Ich … muss an einen früheren Bootsmann denken. Er hieß Phillips. Ich konnte den Mann nicht ausstehen.« Er sah sie nicht an. »Eines frühen Morgens hatten wir vor den Azoren entsetzliches Wetter. Sturmböen vom Westen, sechs, sieben Meter hohe Wellen. Jeder normale Mensch hätte sich davor gefürchtet, aber es war zugleich schön. Die

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