Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Feinde der Krone

Feinde der Krone

Titel: Feinde der Krone Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
Stimme. Pitt sollte seine eigenen Schlüsse ziehen.
    »Tatsächlich?«
    Die Stille lastete schwer im Raum. Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund. Man hörte das Rumpeln, mit dem im Nebenhaus ein Sack Kohlen über die Rutsche in den Keller entleert wurde. Eine sonderbare Mutlosigkeit überkam Pitt. Tellmans Züge sahen aus, als habe er eine Tragödie zu verkünden und als habe die Finsternis bereits in ihm Platz gegriffen.
    Tellman hob den Blick. »Die Beschreibung passt auf den Mann«, sagte er ruhig. »Größe, Alter, Körperbau, Haarfarbe, sogar die Stimme, wie unser Informant sagt. Andernfalls hätte Oberinspektor Wetron die Meldung wahrscheinlich gar nicht an uns weitergereicht.«
    »Und was veranlasst ihn zu der Annahme, dass es sich bei ihm gerade um diesen Mann handelt und nicht um einen von vielen anderen, auf die die Beschreibung ebenfalls zutrifft?«, fragte Pitt. »Schließlich verfügen wir nur über ganz allgemeine Angaben wie ›mittelgroß, wahrscheinlich Anfang sechzig, weder dick noch schlank, graue Haare.‹ Von solchen Männern gibt es sicher Zehntausende, und vermutlich leben Tausende von ihnen in einer Entfernung von der Southampton Row, die sich leicht mit der Eisenbahn überbrücken lässt.« Er beugte sich über den Tisch. »Was gibt es außerdem, Tellman? Warum soll gerade er es sein?«
    Gleichmütig sagte Tellman: »Weil er ein Dozent im Ruhestand ist, dessen Frau kürzlich nach langer Krankheit gestorben ist. Die beiden haben alle ihre Kinder schon in jungen Jahren verloren. Er steht völlig allein und hat sich die Sache sehr zu Herzen genommen. Wie man hört, hat er angefangen, sich  … befremdlich zu benehmen. Er ist herumgezogen und hat junge Frauen angesprochen, wollte wohl sozusagen die Vergangenheit wieder einfangen. Vermutlich hat das mit seinen jung gestorbenen Kindern zu tun.« Er sah elend drein, als hätte man ihn dabei ertappt, wie er sich gleich einem Voyeur am tiefen Kummer eines anderen Menschen weidete. »Die Leute haben angefangen, über ihn zu reden.«
    »Wo wohnt der Mann?«, fragte Pitt trübselig. »In der Nähe von Southampton Row?«
    »Nein«, sagte Tellman rasch. »In Teddington.«
    Pitt glaubte sich verhört zu haben. Das Dorf Teddington lag viele Kilometer stromaufwärts an der Themse, hinter Kew und sogar noch hinter Richmond. Was nur mochte Wetron zu der Annahme veranlassen, dieser unglückliche Mensch könnte etwas mit Maude Lamonts Tod zu tun haben? »Wo?«, fragte er ungläubig.
    »In Teddington«, wiederholte Tellman. »Er kann ohne weiteres mit dem Zug in die Stadt gekommen sein.«
    »Warum in drei Teufels Namen hätte er das tun sollen?«, hielt Pitt dagegen. »Spiritistinnen gibt es schließlich überall. Warum ausgerechnet Maude Lamont? Sie wäre für einen Dozenten im Ruhestand doch eher ziemlich teuer gewesen, oder?«
    »Nun ja«, sagte Tellman und wirkte noch unglücklicher als zuvor. »Er wird hoch geschätzt und ist nach wie vor als profunder Denker bekannt, der zu manchen Themen die maßgeblichen Lehrbücher verfasst hat. Abgelegene Gebiete für Menschen wie Sie und mich, aber die Fachleute halten große Stücke auf ihn.«
    »Auch wenn jemand über die nötigen Mittel verfügt, ist das noch keine Erklärung dafür, dass er über eine große Entfernung in die Stadt kommt, um ein Medium aufzusuchen, dessen Sitzungen fast bis Mitternacht dauern«, wandte Pitt ein.
    Tellman holte tief Luft. »Vielleicht doch, wenn es um einen bedeutenden Geistlichen geht, dessen Ruf sich auf tiefere Einsichten in den christlichen Glauben gründet.« Erneut lagen auf seinen Zügen Mitleid und Verachtung im Widerstreit. »Wer anfängt, die Antwort auf seine Fragen bei Frauen zu suchen, die Eiweiß und Käseleinen hochwürgen und behaupten, dass es sich um Geister handelt, tut das vermutlich doch so weit wie möglich von zu Hause. Ich würde in dem Fall am liebsten in ein anderes Land gehen! Mich wundert überhaupt nicht, dass er durch die Gartentür gekommen und gegangen ist und nicht bereit war, Miss Lamont seinen Namen zu sagen.«
    Mit einem Mal war Pitt die ganze Tragödie klar. Das erklärte alle Besonderheiten des Falles: die Heimlichtuerei und die Besorgnis des Mannes, jemand könnte erraten, wer er war, weshalb er nicht einmal wagte, die Namen der Geister zu nennen, mit denen er in Verbindung treten wollte. So tragisch die Sache war, so leicht ließ sie sich mit ein wenig Vorstellungskraft verstehen. Hier war ein alter Mann, dem man alles genommen hatte, woran

Weitere Kostenlose Bücher