Feinde der Krone
sein Herz hing. Der letzte Schlag, den ihm der Tod seiner Frau versetzt hatte, war für sein seelisches Gleichgewicht zu viel gewesen. Selbst die Stärksten erleben auf der langen Reise des Lebens irgendwann eine finstere Nacht der Seele.
Tellman sah ihn aufmerksam an und wartete auf seine Antwort.
»Ich rede mit ihm«, sagte Pitt gequält. »Wie heißt er, und wie lautet seine Anschrift?«
»Udney Road, ein paar hundert Schritt vom Bahnhof an der Linie, die von London in den Südwesten führt.«
»Und wie heißt er?«
»Francis Wray«, sagte Tellman. Er ließ Pitt nicht aus den Augen.
Pitt dachte an die Kartusche mit dem Buchstaben innerhalb des Kreises, der wie ein umgedrehtes f aussah. Jetzt begriff er Tellmans Unbehagen schon eher und verstand, warum er die Sache nicht einfach beiseite schieben konnte, so gern er es getan hätte. »Ich verstehe«, sagte er.
Tellman öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, schloss ihn dann aber wieder. Es gab wirklich nichts zu sagen, was nicht beide schon gewusst hätten.
»Was haben Ihre Männer in Bezug auf die anderen Besucher herausgefunden?«, erkundigte sich Pitt nach einer Weile.
»Nicht besonders viel«, gab Tellman mürrisch zurück. »Es handelt sich um alle möglichen Leute. Das Einzige, was alle mehr oder weniger gemeinsam haben, ist genug Geld und Zeit, sich um Mitteilungen von Menschen zu kümmern, die bereits tot sind. Manche sind einsam, andere verwirrt. Sie haben das Bedürfnis zu ergründen, ob ihr Ehemann oder Vater sie noch liebt, oder fühlen sich verpflichtet, sie auf dem Laufenden zu halten.« Seine Stimme wurde immer leiser. »Viele lockt einfach der Nervenkitzel; sie wollen ein bisschen Unterhaltung. Keiner hegt einen so starken Groll gegen das Medium, dass sie Grund gehabt hätten, etwas zu unternehmen.«
»Haben Sie auch über die anderen, die vom Cosmo Place aus durch die Gartentür hereingekommen sind, etwas in Erfahrung gebracht?«
»Nein.« In Tellmans Augen flackerte Missmut auf. »Ich weiß auch nicht, wie ich das anstellen sollte. Wo würde man dabei anfangen?«
»Wie viel hat Maude Lamont mit dieser Tätigkeit in etwa verdient?«
Mit weit geöffneten Augen sagte Tellman: »Etwa viermal so viel wie ich vor meiner Beförderung.«
Pitt wusste genau, wie viel Tellman verdiente. Er konnte ohne weiteres abschätzen, welchen Umsatz Maude Lamont
gemacht hatte, wenn sie vier oder fünf Tage in der Woche tätig geworden war. »Das ist immer noch deutlich weniger, als sie für den Unterhalt ihres Hauses und ihre kostspielige Garderobe aufwenden musste.«
»Erpressung?«, fragte Tellman fast automatisch. Sein Gesicht verzog sich zu einer Maske des Abscheus. »Nicht genug damit, dass sie die Leute hereinlegte, ließ sie die auch noch dafür bezahlen, dass sie ihre Geheimnisse für sich behielt?« Ihm ging es nicht um Antworten, er musste einfach seiner Verbitterung Luft machen. »Manche Leute legen es so darauf an, umgebracht zu werden, dass man sich wundern muss, wie sie es bisher fertiggebracht haben, dem zu entgehen!«
»Das ändert nichts daran, dass wir feststellen müssen, wer sie getötet hat«, sagte Pitt ruhig. »Unter keinen Umständen kann man einen Mord auf sich beruhen lassen. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass die Gerechtigkeit alles in angemessener Weise behandelt und je nach Situation straft oder Gnade walten lässt. Mir ist aber klar, dass das nicht der Fall ist. Sie irrt in beiden Richtungen. Doch wenn es so weit käme, dass jeder nach eigenem Ermessen Rache übt oder sich über die Androhung der Todesstrafe bei Mord hinwegsetzen darf, wäre der Anarchie Tür und Tor geöffnet.«
»Als ob ich das nicht wüsste«, knurrte Tellman.
»Irgendetwas Neues über ihr Dienstmädchen?«, fragte Pitt, ohne auf Tellmans Ton zu achten.
»Nichts, was uns weiterhelfen würde. Auch wenn sie im Großen und Ganzen ziemlich vernünftig zu sein scheint, vermute ich, dass sie mehr über diese spiritistischen Sitzungen und die Art weiß, wie man die Leute hinters Licht geführt hat, als sie uns sagt. Das kann gar nicht anders sein, denn sie hat sich als Einzige immer in der Nähe aufgehalten. Alle anderen im Haus Beschäftigten – Köchin, Wäscherin und Gärtner – kamen immer nur tagsüber oder stundenweise und waren längst aus dem Haus, bevor die privaten Sitzungen begannen.«
»Ist nicht denkbar, dass auch sie hinters Licht geführt wurde?« , fragte Pitt.
»Dafür ist sie zu vernünftig«, sagte Tellman. Seine Stimme
klang
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