Feinde der Zeit: Roman (German Edition)
und sah, dass sie ihren Wein runterkippte wie Wasser.
»Ich kam von einer Freundin nach Hause und ging ins Wohnzimmer.« Ihre Stimme fing an zu zittern, und eine einzelne Träne lief ihre Wange hinab. »Der Fernseher lief, und meine Eltern lagen ausgestreckt auf dem Sofa und schliefen. Ich hab ihnen immer Bescheid gesagt, wenn ich wieder da war, damit sie sich keine Sorgen machten. Zuerst hab ich Mom gerüttelt, aber sie reagierte nicht. Da habe ich erst gemerkt, dass sie gar nicht atmete. Und mit Dad war’s das Gleiche. Aber sie sahen aus … als wäre alles gut.«
»Oje«, murmelte ich, aber Kendrick hörte mich gar nicht. Ihre Augen fixierten etwas hinter mir.
»Ich hab sofort einen Krankenwagen gerufen, und dann stand ich einfach nur da und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich meine, ich wusste, wie man Wiederbelebungsmaßnahmen durchführt und all das, aber ich konnte mich nicht bewegen. Bis mir Carson einfiel.« Sie machte eine Pause, holte tief Luft und wischte sich die Augen an ihrem Ärmel trocken. »Er lag in seinem Bett, der Fernseher war aus, und seine Schultasche hing an der Tür. Und eine Sekunde lang habe ich gedacht, es wäre alles in Ordnung.«
Sie brach ab und saß einfach nur da und starrte auf den Tisch. Schon jetzt wollte ich, dass sie aufhörte, dass sie mir den Rest nicht erzählte. Doch ich konzentrierte mich auf das Ziel, Informationen über sie zu sammeln, da ich wusste, dass es weniger weh tun würde, wenn ich innerlich im Agentenmodus blieb. »Weißt du, was passiert war?«
Sie nickte. »Laut Autopsie war es eine Kohlenmonoxidvergiftung, aber Chief Marshall hat den Bericht geändert. Er meinte, es sei ein Gift gewesen, das man nicht nachweisen könne.«
»Marshall?«, fragte ich und versuchte zu ergründen, wann er ins Spiel gekommen war.
»Er kam rein, während ich in Carsons Zimmer war, und hat mich aus der Wohnung in ein Auto gezerrt. Danach bin ich irgendwo anders aufgewacht, in einem Haus. Und Marshall war da. Er sagte mir, dass ich nie wieder nach Hause gehen könne, weil mich die EOTs sonst auch töten würden.«
»Hast du denn sonst keine Familie mehr?«, fragte ich. »Keine Tante oder Großeltern?«
»Die glauben, dass ich tot bin«, flüsterte sie. »Meine ganze Identität wurde verändert. Mein Geburtstag ist jetzt nicht mehr der fünfte, sondern der siebte November. Meine Haare waren früher viel heller als heute. Meine Sozialversicherungsnummer, meine Schulzeugnisse, alles ist geändert worden. Aber meinen Namen wollte ich nicht ändern. Dein Dad hat gesagt, das sei okay. Er war auch dort. In der Nacht, als sie gestorben sind.«
Ich schluckte. Die Verbindung zwischen ihrer und meiner Familie machte es noch schwieriger, im Agentenmodus zu bleiben. Das hier ist geschäftlich, nicht privat. »Wirklich, er war auch da?«
»Ja. Er hat mir die Kette meiner Mutter gebracht. Sie hatte sie von ihrer Mutter, ein Familienerbstück. Und auch das Taschenmesser von meinem Vater und ein Bild, das Carson für mich gemalt hat. Es hing in meinem Zimmer, direkt über meiner Kommode.« Sie holte zitternd Luft und atmete dann langsam aus. »O Gott, das ist alles so schrecklich! Mein Bruder war noch nicht mal mit der dritten Klasse fertig. Warum sollte ihn jemand umbringen wollen?«
»Keine Ahnung«, sagte ich, aber mir gingen schon die wildesten Theorien durch den Kopf.
»Wegen mir«, sagte sie matt. »Sie wissen irgendwas über mich, die Feinde der Zeit. Irgendwas, das in der Zukunft passiert. Vielleicht bringe ich sie gleich dutzendweise zur Strecke oder irgend so was.« Sie lächelte traurig. Ein hilfloser Versuch, die Stimmung aufzuhellen.
»Wünschst du dir manchmal, du könntest noch mal zurück nach Hause und irgendwen aus deiner Familie besuchen?«, fragte ich.
»Ich hatte kein besonders enges Verhältnis zu den anderen. Die eine Hälfte lebt in Kanada, die andere im Norden von Kalifornien. Aber ich hätte gern den Ehering meiner Mutter. Wenn sie noch da wäre, würde er mich vielleicht gar nicht so interessieren, aber jetzt finde ich die Idee einfach total schön.«
Kein Wunder, dass Michael gesagt hatte, sie hätte genug, womit sie fertig werden musste. Vielleicht hatte sie es sogar noch schwerer als ich. Kendrick, Stewart, Mason – sie alle hatten vollkommen verrückte, tragische Ereignisse hierhergeführt. Vielleicht war das eine Grundvoraussetzung, um Mitglied von Tempest zu werden. Die meisten von uns hatten nicht mehr viel zu verlieren. Außer dass Kendrick noch
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