Feinde der Zeit: Roman (German Edition)
Augen?«, hakte ich nach.
»Blau. Ich hatte den Eindruck, dass es sich um ein besonderes Kind handelte, ein wenig verrückt. Aber jetzt bin ich mir da gar nicht mehr so sicher.« Er zog wieder an der Zigarette. »Und ein großer Schwarzer mit kahlem Kopf.«
»Marshall.«
»Er hat sich mir nicht vorgestellt.« Dad sah mich an. »Du bist der Erste, der mir seinen Namen sagt. Und du wirkst wesentlich überraschter, mich zu sehen, als die anderen. Ich hatte das Gefühl, dass die dasselbe Gespräch schon ein paar Dutzend Mal mit mir geführt hatten.«
»Und was wollten sie?«
Er warf die Zigarette in den Kies und trat sie mit seinem schwarzen Schuh aus. »Mich zurückbringen. Dahin, wo ich herkomme.«
»Aber du kommst doch von hier.« Ich begriff jetzt seinen Ärger von vorhin. Vielleicht zweifelte er inzwischen an seiner eigenen Geschichte.
»Genau. Es fing alles an, als ich diese Bilder von dem Russen und seiner Familie fand. Ich schwöre auf jede Bibel in diesem Bundesstaat, dass die Fotos zwanzig Jahre alt waren, aber der Mann war hier, in Billys Kneipe, um einen zu trinken – und er sah absolut genauso aus wie auf den Bildern. Melvin ist ein forensisches Genie, und er hat es auch gesagt.« Er holte tief Luft und sah mich verzweifelt an. »Wenn mir das nicht aufgefallen wäre, würden diese ganzen Kerle mich nicht behelligen, hab ich recht? Ich hab da was losgetreten, das ich nie lostreten wollte, und jetzt komme ich nicht mehr aus der Sache raus. Und wem soll ich davon erzählen? Ich würde schneller von den Jungs in den weißen Kitteln abgeholt, als man Joe DiMaggio sagen kann.«
Abgeholt wirst du so oder so, das steht fest. Ich spürte, wie ich zu verschwinden begann. Ich hatte einen so weiten Sprung zurück gemacht, dass ich nicht besonders lange bleiben konnte. »Ich muss jetzt gehen.«
»Was? Warum?«, fragte er und schaute sich ängstlich um.
Ich schaute auf meine Hände, deren Durchsichtigkeit mich ganz schwindelig machte. »Ich kann nichts dagegen tun, aber wir sehen uns wieder, ganz sicher.«
Schwärze verschluckte mich, und ich ließ Dad allein in dieser Gasse zurück. Rauchend. Im Jahr 1952.
27
21. Juni 2009, 22:20 Uhr
Ich spürte den Tisch unter mir, gegen den ich meine verschwitzte Stirn gepresst hatte. Der aktuelle Tag, die Zeit und das Jahr wurden mir langsam wieder bewusst. In meiner Tasche vibrierte erneut das Handy. Ich tastete danach und versuchte es herauszuholen, ohne den Kopf zu heben. Als ich das Leuchten des Displays wahrnahm, fiel mir auf, dass es in meiner Umgebung dunkel geworden war. So als ob jemand in der Bibliothek das Licht ausgemacht hätte. Ich hätte mir einen sichereren Ort aussuchen sollen, um diesen Halbsprung zu machen. Schließlich war mir ja klar, dass ich meinen Körper im Jahr 2009 völlig ungeschützt zurücklassen würde. Ich Idiot.
Ich zwinkerte ein paarmal, bis ich die SMS lesen konnte. Eine Adresse, ein altes Wohnhaus ein paar Blocks entfernt.
»Ich wusste es!«, rief plötzlich jemand. »Und zwar gleich, als ich euch beide auf Healys Ball gesehen hab. Doppelagenten kommen nie lange damit durch. Sie hätte das wissen müssen.«
Mein Herz raste, und die Adrenalinausschüttung verlieh mir die Kraft, den Kopf zu heben. Wenige Meter vor mir in der dunklen Bibliothek stand Agent Carter mit der Waffe im Anschlag.
Moment mal … Agent Carter?
»Sie dachten wohl, der kleine Trick mit der Spritze würde bei mir funktionieren, was?« Sein fieses Grinsen drang durch die Dunkelheit. »Genau wie Flynn. Sie haben einfach nicht den Mumm, anderen den Todesstoß zu versetzen.«
Ich schaute mich im Raum um und registrierte, dass Holly immer noch neben mir schlief. Aber jetzt wachte sie langsam auf und drehte ihren Kopf von links nach rechts. Mein Blick fiel auf den Boden, auf eine Stelle in der Nähe meiner Füße.
Ich sprang auf und rannte zu der Gestalt, die auf dem Teppich lag. »Freeman!«
Was zum Teufel macht er hier?
Übelkeit und Trauer überfluteten mich wie eine riesige Welle. Seine Augen standen offen. Wie lange hatte der Halbsprung denn gedauert? Doch wohl nicht mehr als ein paar Minuten?
O Gott, nicht auch noch Freeman!
»Carter, was ist hier los? Was ist mit dem Licht?«
Ich warf einen schnellen Blick zurück zum Tisch und sah, dass Holly sich im Stuhl aufrichtete und im Dunkeln zu orientieren versuchte.
»Sag du’s mir, Flynn. Wie lange arbeitest du schon für Tempest?«, höhnte Carter und bewegte sich auf Holly zu.
Sie riss die Augen weit auf
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