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Feinde kann man sich nicht aussuchen

Feinde kann man sich nicht aussuchen

Titel: Feinde kann man sich nicht aussuchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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pausenlos durch die Weltgeschichte, ohne daß ich wußte, warum.
    Es kamen Postkarten, und es kamen
Anrufe. Die schlichten weißen Karten — Hy war kein Ansichtskartentyp — trugen
Briefmarken aus den USA oder aus dem Ausland und belanglose Botschaften. Die
Telefonate waren kurz, beschränkten sich auf banales Geplauder: Ja, ich hatte
meine Firmenlizenz bekommen. Nein, ich hatte noch keine Aufträge angenommen.
Ja, es war schwül-heiß in Miami — oder regnerisch in London oder bedeckt in New
York. Nein, er wußte noch nicht genau, was er als nächstes tun würde. Ich hatte
die Karten der Reihe nach abgelegt und die Daten und Ausgangsorte seiner Anrufe
aufgelistet. Nichts, was auf eine geplante Route hätte schließen lassen, kein
Hinweis auf den Zweck seiner Reiserei.
    Hy hatte schon seit einiger Zeit davon
geredet, daß ihn die Arbeit in der Umweltschutzbewegung nicht mehr befriedigte;
er hatte das Gefühl, sein Aktionsstil der direkten Konfrontation sei veraltet,
seine Fähigkeit, Gelder aufzutreiben, begrenzt. Im Juni war er außerdem
gezwungen worden, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen und seine
Zukunft neu zu überdenken. Genau wie ich, hatte er sich für eine Veränderung
entschieden, aber bislang hatte ich noch keine Ahnung, welcher Art diese
Veränderung sein würde. Ich wußte nur, was er da machte, war nicht die typische
Herumvagabundiererei von Leuten mit viel Geld und Zeit. Und außerdem hatte ich
den Verdacht, daß seine Wege irgendwie mit jener mysteriösen Neun-Jahre-Lücke
in seinem Leben zu tun hatten — einer Zeit, die ihn fast kaputtgemacht hatte
und über die er mit niemandem redete, auch nicht mit mir.
    Ich wußte nicht, was schmerzlicher war —
seine Weigerung, sich mir zu öffnen, oder seine Abwesenheit gerade jetzt, da
ich ihn am meisten brauchte. Ich steckte mitten im größten Wagnis meines
Lebens: zum erstenmal arbeitete ich auf eigene Faust, ohne den Rückhalt eines
festen Arbeitsverhältnisses; das Geld floß in Strömen hinaus, aber noch
strömten keine Klienten herein; meine Schwester hatte mir einen Teenager mit
kriminellen Neigungen aufgehalst. Und jetzt hatte man mir einen ersten Fall
angetragen, der zwar potentiell lukrativ war, aber äußerst
komplikationsträchtig. Ich brauchte Hy, meinen Prüfstein, um mit ihm zu reden,
aber ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wo in aller Welt ich ihn erreichen
konnte.
    Ich beäugte die Rose feindselig. Zog
sie aus der Vase und befingerte ein Blütenblatt, erwog eine perverse Variante
des alten Er-liebt-mich-er-liebt-mich-nicht-Spiels unter Einbeziehung aller
möglichen Grausamkeiten, die ich meinem Liebsten gern zugefügt hätte. Ich
steckte sie jedoch wieder zurück und zupfte das Grün zurecht. Nutzlos, die
Situation zu trivialisieren; überflüssig, die Liste meiner Charakterdefekte
auch noch um kindische Rachsucht zu erweitern.
    Ich zwang mich, meine Gedanken wieder
auf Suitcase Gordon zu lenken, und beschloß, nach oben zu gehen und nachzusehen,
ob Rae daheim war. Ich hatte schon oft von ihrem Scharfblick profitiert;
vielleicht würde sie ja dahinterkommen, weshalb ich so unsicher war, ob ich ihn
als meinen ersten Klienten annehmen sollte.
    Rae wohnte in einem großen Dachraum mit
schrägen Fenstern. Sie, Ted, die Steuerrechtlerin Pam Ogata und der
Unternehmensrechtler Larry Koslowski waren die letzten Überbleibsel jener
Zeiten, da All Souls ein Armenanwaltskollektiv im striktesten Sinn des Wortes
gewesen war und seinen unterbezahlten Mitarbeitern freie Unterkunft als Teil
ihres mageren Entgelts geboten hatte. Die vier waren hier wohnengeblieben, weil
ihnen die Gemeinschaftsatmosphäre gefiel, und meistens waren auch diejenigen
von uns, die woanders wohnten, nach Feierabend hier zu finden, beim Poker oder
einem gemeinsamen Essen, zu dem jeder etwas beigesteuert hatte.
    Ich klopfte an Raes Türrahmen, in dem
ein Perlenvorhang hing, und ihre Stimme hieß mich hereinkommen. Ich schob den
Vorhang beiseite, duckte mich unter dem niedrigen Türbalken hindurch und trat
ein. Der Raum war nur schummrig erhellt; Rae saß im Schneidersitz auf dem
Fußboden, unter dem spitzen Dachfirst. Sie trug ihren abgewetzten karierten
Bademantel und musterte ihr Gesicht in einem beleuchteten Make-up-Spiegel, der
auf dem Koffer stand, in dem sie ihre Jeans und Pullover aufbewahrte. Sie
erblickte mich im Spiegel und grinste, daß sich ihre sommersprossige Nase
krauste. »Hey, ich habe gerade an dich gedacht«, sagte sie.
    »Ach,

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