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Feindesland

Feindesland

Titel: Feindesland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Uschmann
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Stücke aus ihr herausbrechen. Hartmut guckt. Dennis wippt hin und her.
    »Und?«, fragt Hartmut.
    »Das Kind«, sagt Dennis, »der Junge von denen, der war bis vor drei Wochen noch zu sehen. Dann ist er verschwunden.« »Wie, verschwunden?«
    »Na, weg. Einfach weg! Da war noch Schule. Ein Krankenwagen ist auch nie gekommen. Ich hab ihn nie das Gelände verlassen sehen. Kurz vor Heiligabend ist auch seine Mutter gegangen. Angeblich sind sie bei der Oma. Aber wenn dem so ist, warum ist er dann nie aus dem Haus gekommen? Ist abends ganz normal ins Bett und morgens nicht mehr rausgekommen? Ein Junge fahrt doch nichts nachts um vier zur Oma in die Ferien. Wenn die Schule noch läuft!«
    »Du beobachtest das so genau?«
    »Um halb acht geht der Junge in die Schule. Zwischen eins und drei kommt er wieder zurück. Dienstags und freitags geht er zum Fußballtraining im Verein, um fünf Uhr raus, um acht wieder rein. Immer bringt ihn der Vater zur Tür und empfängt ihn dort auch wieder. Er spielt mit ihm Wii, seine Mutter auch. Sie machen Scharade. Sie lachen viel zusammen. Dann hat das aufgehört. Die Eltern haben sich gestritten. Der Vater ist rüber zur Tanke, immer wieder, hat ein, zwei Bier geholt und das dann sofort getrunken, während er durchs Viertel gelaufen ist. Immer so Runden von zehn bis dreißig Minuten. Später wurden sie länger.
    Manchmal ist er sie zweimal gelaufen. Vier Bier, fünf Bier. War er wieder oben, haben sie sich angeschrien. Jetzt ist der Junge ganz weg. Und die Mutter seit vorgestern auch.« »Und man weiß nichts?«
    »Nur was der Mann selbst gesagt hat. Junge bei Oma, Mutter auch. Wer macht denn so was? An Heiligabend?«
    Ich schniefe, wie Männer es tun, wenn sie etwas ratlos sind, und schaue mir die Hüllen der herumliegenden anderen Spiele an. Survival Horror, Serienkiller, unterirdische Korridore, Ego-Shooter.
    »Wieso siehst du nicht nach?«, fragt Hartmut. Dennis schaut zu ihm auf. Hartmut setzt das Fernglas ab. Um seine Augen herum bleiben Ringe vom Vakuum, weil er das Glas so fest angedrückt hat. Er sagt: »Du beobachtest hier monatelang Leute mit einem Fernglas und ziehst deine Schlüsse aus der Beobachtung.«
    »Aber ich ... ich kann doch ... Ich kann doch nicht einfach fragen! Was ist, wenn wirklich etwas Schlimmes passiert ist? Das wäre ja toll: >Hallo<, sage ich dann. >Ich bin der Junge von nebenan, darf ich mich vorstellen, ich bin der einzige Zeuge. Beseitigen Sie mich bitte schmerzlos!<«
    »Zeuge wovon?«, sagt Hartmut. »Glaubst du, in Hochhäusern werden ständig nur Verbrechen begangen?« Er stockt, als er das sagt, und sieht mich so komisch an, als wüsste er, dass er gerade Mist geredet hat. Er öffnet seinen Mund, dann macht er ihn wieder zu. Nach einer Weile sagt er: »Aber du könntest wenigstens einmal rübergehen. In das Haus. Beobachten. Dich umhören. Nachbarn aushorchen. Von hier aus bist du taub. Und stumm. Kein Detektiv kann so arbeiten. Entweder das, oder du gehst auf gut Glück zur Polizei.«
    Dennis tritt von einem Bein auf das andere, geht durchs Zimmer und schiebt ein paar Spielehüllen auf dem Teppich hin und her. Er geht zu seinem PC, schaltet ihn ein und sagt: »Habt ihr mal das YouTube-Video mit dem schwersten Endgegner der Welt gesehen?« Er öffnet den Browser, surft auf die Seite, gibt ein Stichwort ein, dreht die Boxen auf, schaltet auf Vollbild und lässt das Raumschiff des japanischen Ballerspiels Mushihime-sama Futari von oben in den Bildschirm fliegen. Die Szene ist eine psychedelische Erfahrung, bei welcher der Bildschirm nur noch aus Kugeln besteht. Ausweichen ist im Grunde unmöglich. Im Hintergrund des abgefilmten Spiels hört man ein paar Japaner in der Spielhalle hysterisch lachen. Das Filmchen endet, und Dennis kehrt auf die Startseite von YouTube zurück, als Hartmut zusammenzuckt. Sein Finger schnellt zum Bildschirm und klopft darauf, als wolle er sich mit dem Nagel in den Kunststoff graben: »Warte mal, was ist das? Dieser Clip da, >funny cat<, klick mal da drauf!«
    Ein Video, das erst heute eingestellt wurde, vor einer Stunde. Dennis klickt darauf, der Ladekreis erscheint im Bild, dann startet der Film. Ein Bauernhof ist zu sehen, eine alte Straße, die zu ihm hinführt, ein Zaun aus Stacheldraht und grobgehauenen Pflöcken, eine Wiese, leere Obstbäume. Die Handkamera filmt das Idyll wackelig ab. Der Titel wird darübergeblendet, laienhaft mit einem Standardprogramm in Times-New-Roman-Schrift eingefügt: »funny cat, auf unserem

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