Feindesland
Elternbesuch von der Seele.
»Ich war ein ganz schön labiles Kind, was?« Ich lache.
Wir achten beim Gehen darauf, nicht die Ritzen zu treffen. Die Ritzen sind vermoost, Baumwurzeln drücken einzelne Steinplatten nach oben. Es sind Platten, die schon hier lagen, als Hartmut im Buggy zu Bönninger geschoben wurde. Es ist unsere Stadt, unser ganzes altes Leben.
»Ist schon komisch«, sagt Hartmut, als wir das Peitschhaus passieren. »Bis zum Beginn des Studiums hat man seinen Eltern alles erzählt. Na gut, sagen wir vieles. Sie waren alles in allem solide und nah an der Wahrheit informiert. Und heute? Heute schnorre ich von ihnen 5000 Euro in bar, um eine Doktorarbeit, die ich noch gar nicht verfasst habe, als Buch drucken zu lassen, obwohl das heute bereits als E-Book genügt. Sie wissen nichts davon, dass die Steuer uns ausgezogen hat, dass wir pleite sind, was eigentlich los war auf der Autobahn. Nichts von Herrn Twitter. Nichts von Herrn Leuchtenberg. Nichts von unserem Erlebnis im Wald.«
Ich vermeide Ritzen. Ich atme die kalte, schneefreie Winterluft. Ich denke daran, was hätte passieren können, wären wir im Wald geblieben, selbst noch nach seiner Neuschöpf- ... nein, ich kann darüber nicht weiter nachdenken. Es ist zu absurd.
»Wissen sie von der Closeline damals?«, frage ich.
Hartmut schüttelt den Kopf.
»Vom Stromabstellen?«
»Nein.«
»Vom Spam?«
»Ein wenig.«
Hartmut hebt die Hände und schiebt sie wie einen Keil vor, während er redet. Er zerschneidet die kalte Weihnachtsluft. »Was uns wirklich bewegt, können wir ihnen nicht mehr sagen. Dass wir die Printen und die Pfeffernüsse und den schönen Baum und das Bier und die singenden Nachbarn wirklich gern genießen würden, aber jede Sekunde mit Herzklopfen an unseren Kater denken, den wir mit diesen 5000 Euro aus den Krallen der russischen Mafia auszulösen haben. Dass du gestern Nacht eine Waffe auf einen jungen Mann gerichtet hast. Dass wir Geschütztürme bauen. Das können wir ihnen alles nicht sagen.«
»Würdest du denn gerne?«, frage ich.
»Ich weiß nicht«, sagt er.
»Denk dran, deine Mama würde uns gerne bei sich aufnehmen. Im Gästezimmer.«
Hartmut lacht und drückt den Knopf an der Ampel, die wir mittlerweile erreicht haben. In den Hunderten von Fenstern der Hochhaustürme leuchten Lichterketten, Lichterbögen und Lichterkreise. In den Erdgeschossen leuchten die Reklamen einer Spielhalle, einer Frittenbude, einer Wettannahmestelle und einer Videothek. Das war meine Welt, 21 Jahre lang. Ich habe kurz das Gefühl, als müsse ich mich schämen, doch dann schäme ich mich für meine Scham. Die Frauen erreichen uns, und Caterina hält meine Hand und krault mir den Rücken. Susanne sagt: »Wird auch Zeit!«, denn in ihrer Tasche friert Irmtraut, auch wenn sie gut eingepackt ist.
»Meiner Mutter erzählen wir auch nichts Wahres«, sage ich zur Sicherheit noch mal allen an der Ampel. »Und wir machen schnell. Wir müssen heim. Wenn wir Glück haben, machen die Russen den Austausch noch heute Nacht mit uns.«
Hartmut sagt zu Susanne: »Schatz, ist das wirklich okay, wenn wir morgen den Besuch bei deiner Mutter absagen?«
»Yannick geht vor. Wir sollten alle dort sein, bis er wieder da ist. Ich erkläre ihr das schon, keine Bange.«
»Du bist wunderbar! Die Frau meines Lebens, die großartigste und verständnisvollste, kompetenteste, erotischste, nicht nur auf einer Wellenlänge, sondern sogar auf einer Quantenteilchenebene schwingende, beste und heldenhafteste aller Frauen«, sagt Hartmut.
Susanne sagt: »Geh, es ist grün!«
Bei Hartmuts Eltern mag es Printen geben, bei meiner Mutter gibt es Hähnchen. Das war schon immer so, und das wird immer so bleiben. Da sie nicht ignorant ist, hat sie für unsere Vegetarier Hartmut und Caterina große Extraportionen ihrer sensationellen Kartoffelspalten gemacht, die auch als Hauptmahlzeit dienen können. Gewürzt mit Rosmarin, Dill und uns Männern unbekannten Kräutern in geheimem Mischungsverhältnis, sind diese Kartoffelecken an normalen Tagen ein Glücksgefühl außerordentlicher Art. An Tagen, an denen man nicht die Hummeln im Hintern hat, weil man die Katze retten muss.
»Schade, dass ihr schon früh wieder wegmüsst«, sagt meine Mutter, Kartoffeln verteilend. Im Wohnzimmer läuft die Weihnachtsplatte von Peter Alexander, die wir auch in besagter Nacht gehört hatten, als Hartmut hierherflüchtete und mit mir und meiner Mutter Weihnachten rettete, indem wir es
Weitere Kostenlose Bücher