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Feindesland

Feindesland

Titel: Feindesland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Uschmann
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absagten.
    »Wir müssen halt noch zu den anderen Eltern«, lüge ich. Familienverpflichtungen halten als Grund der Verkürzung anderer Familienpflichten immer gut her, besser als Verpflichtungen, die man gegenüber der russischen Mafia zu erfüllen hat.
    Schweigend essen wir in der Küche, und Peter Alexander singt nebenan: »Träum mit mir von der Zeit / Weihnacht / das Fest der Liebe ist nun da.«
    Ich verschlucke mich an einer Rosmarinkartoffel, da mir bei dieser Melodie die Tränen hinter die Augen schießen, zu sehr hat sie mit meiner Kindheit zu tun, mit dem letzten Jahr, in dem Vater da war, und den vielen Jahren danach, in denen er nicht mehr da war. Aber wie gesagt, die Tränen schießen mir bloß hinter die Augen, nicht in die Augen. Diese Technik lernt man bei UPS und beim Bund. Stoppe sie, bevor sie sichtbar das Auge befeuchten. Der Druck kehrt sich dann nach innen um, und man verschluckt sich.
    »Sorry«, sage ich, und Caterina streichelt unter dem Tisch meine Hand. Es wird wieder gekaut und geschwiegen. Rein von der Gesprächigkeit her würden meine Mutter und Hartmuts Vater gut zusammenpassen.
    »Wenigstens bin ich später noch bei Judith eingeladen«, sagt meine Mutter.
    Meine Tante wohnt zwei Stockwerke höher mit meinem Cousin. Wir haben vieles gemeinsam. Auch Dennis war sehr früh allein. Auch er weiß bis heute nicht, wo sein Erzeuger sich versteckt. Er ist fünfzehn. Da ist das alles noch härter.
    »Sind sie zu Hause, jetzt im Moment?«, frage ich.
    »Ja«, sagt meine Mutter kauend.
    »Ich will sie sehen«, sage ich. »Nur eben hallo sagen.«
    »Dann geh rauf und klopf.«
    »Kenn ich deinen Cousin?«, fragt Hartmut.
    »Nein«, sage ich.
    »Das geht nicht. Ich bin hier der große Zampano, ich muss alle Männerfiguren kennen, die auftauchen.« »Dann komm mit.«
    Meine Mutter streckt ihre Arme aus und legt sie links und rechts auf die Schultern von Caterina und Susanne: »Dann geht beide rauf, und die Mädchen bleiben hier. Ich wollte euch sowieso noch ein paar Kinder-Tipps mit auf den Weg geben.«
    Caterina macht ihren »Ist okay!«-Blick, Susanne rollt mit den Augen. Wir essen die Kartoffeln auf und gehen hoch in den zwölften Stock.
     
    »Onkel —«
    »Na!«, unterbreche ich Dennis, der die Tür geöffnet hat, »nenn mich nicht so!«
    Er umarmt mich. Wir sehen uns sehr selten, aber das scheint seiner Begeisterung keinen Abbruch zu tun. Seine Mutter erscheint hinter ihm, meine Tante Judith, ein Spültuch in der Hand.
    »Der Neffe«, sagt sie. »Welch seltener Besuch. Und Sie müssen der Mitbewohner sein?« »Hartmut.«
    »Genau, Hartmut. Es lag mir auf der Zunge.« »Wie geht es euch?«, frage ich.
    »Muss. Auf der Arbeit haben wir immer mehr Bewohner und immer weniger Personal. Ich lebe von Kaffee und Vitamintabletten. Wollt ihr was essen? Wir haben noch Stollen von gestern da.«
    »Wir haben wenig Zeit. Wollten nur hallo sagen«, sage ich.
    »Seid ihr immer noch auf PS1?«, fragt Dennis.
    »PS2«, sage ich, gespielt stolz. Er schmunzelt. Ich frage: »Und du?«
    Meine Tante antwortet für ihn: »Der junge Mann hat eine ganze Kommandozentrale in seinem Zimmer. Aber jetzt muss es erst mal gut sein. Er geht mir zu wenig aus dem Haus.«
    »Ach, Mama, ich bin fünfzehn«, sagt Dennis.
    »Gerade drum. Es wird Zeit, Mädchen kennenzulernen.«
    Dennis weicht unserem Blick aus und schaut auf ein Bild an der Wand. Blätter kleben darin, Ahornblätter, fein aufgeklebt, gerahmt und mit »Sommer 1969« beschriftet.
    »Na los, zeig ihnen deine Kommandozentrale«, sagt Judith, und wir folgen Dennis in sein Zimmer.
    Ich sehe, dass Super Monkey Ball auf dem Fernseher läuft, und sage: »Ja, ist es denn die Möglichkeit, das spielen wir auch gerade!«
    Hartmut geht zum Fenster, nimmt ein Fernglas, das auf dem Bett liegt, und sieht hindurch. »Wow!«, sagt er, »da kann man ja allen Mietern im Nachbarhaus bis auf den Esstisch schauen.« Er nimmt das Glas von den Augen und dreht es um. »Wie stark ist das denn? Das muss doch teuer sein, so was!«
    »595 Euro«, sagt Dennis und geht zu Hartmut. Er drückt seinen Arm hoch und zeigt zugleich rüber zum anderen Haus. »Guck mal da hin, die rechte Fensterreihe im vierzehnten Stock, direkt unterm Dach.«
    Hartmut guckt. »Was ist da?«
    »Da wohnt eine kleine Familie. Vater, Mutter, Kind.«
    Hartmut späht genauer: »Ich sehe niemanden.«
    »Genau«, sagt Dennis. Er scheint aufgeregt. Er stemmt die Hände auf die Fensterbank, die Daumen darunter, als müsse er

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